DER KETZER VON SOANA - Page 3

Bild von Gerhart Hauptmann
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und unvergeßlich war.

Der Besucher wurde gleich bei der Ankunft in die Wohnung, den
Innenraum des schon geschilderten Würfels, eingeführt. Er war
quadratisch, sauber, hatte einen Kamin und glich dem schlichten
Arbeitszimmer eines Gelehrten. Vorhanden war Tinte, Feder, Papier und
eine kleine Bücherei, hauptsächlich griechischer und lateinischer
Schriftsteller. »Warum soll ich es Ihnen verhehlen,« sagte der Hirt,
»daß ich aus guter Familie bin, eine mißleitete Jugend und gelehrte
Bildung genossen habe. Sie werden natürlich wissen wollen, wie ich
aus einem unnatürlichen Menschen ein natürlicher, aus einem gefangenen
ein freier, aus einem zerstörten und verdrossenen ein glücklicher und
zufriedener geworden bin? Oder wie ich mich selbst aus der
bürgerlichen Gesellschaft und der Christenheit ausgeschlossen habe?«
Er lachte laut. »Vielleicht schreibe ich einmal die Geschichte meiner
Umwandlung«. Der Besucher, dessen Spannung aufs höchste gestiegen war,
fand sich plötzlich wiederum weit vom Ziele verschlagen. Es konnte ihm
dabei wenig helfen, daß der Gastfreund zum Schluß erklärte, die
Ursache seiner Erneuerung sei: er bete natürliche Symbole an. Im
Schatten des Felsens, auf der Terrasse, am Rande der überfließenden
Wanne war, in köstlicher Kühle, reichlicher als das erstemal getafelt
worden: Räucherschinken, Käse und Weizenbrot, Feigen, frische Mispeln
und Wein. Vielerlei war, nicht übermütig, aber mit stiller Heiterkeit
geplaudert worden. Endlich wurde der Steintisch abgeräumt. Nun aber
kam ein Augenblick, der dem Herausgeber wie etwas eben Geschehenes
gegenwärtig ist.

Der bronzefarbene Hirt machte, wie man weiß, mit seinem ungepflegten,
langen Gelock des Haupt- und Barthaares, sowie durch seine Kleidung
aus Fell den Eindruck der Verwilderung. Er ist mit einem Johannes des
Donatello verglichen worden. In der Tat hatten auch sein Gesicht und
das Antlitz jenes Johannes in der Feinheit der Linien viel
Ähnlichkeit. Ludovico war eigentlich, näher betrachtet, schön, sofern
man von dem Entstellenden der Brille absehen konnte. Freilich erhielt
die ganze Gestalt durch sie wiederum, neben dem leise komischen Zug,
das rätselhaft Sonderbare und Fesselnde. In dem Augenblick, von dem
die Rede ist, unterlag der ganze Mensch einer Veränderung. Hatte das
Bronzeartige seines Körpers sich auch durch eine gewisse
Unbeweglichkeit seiner Züge ausgedrückt, so wich es insofern, als sie
beweglich wurden und sich verjüngten. Er lächelte, man könnte sagen,
in einem Anflug knabenhafter Schamhaftigkeit. »Was ich Ihnen jetzt
zumute,« sagte er, »habe ich noch keinem anderen Menschen
vorgeschlagen. Woher ich den Mut plötzlich nehme, weiß ich eigentlich
selber nicht. Aus alter Gewohnheit vergangener Zeiten lese ich
gelegentlich noch und hantiere auch wohl noch mit Tinte und Feder. So
habe ich in müßigen Winterstunden eine simple Geschichte
niedergeschrieben, die lange vor meiner Zeit, hier in und um Soana,
sich ereignet haben soll. Sie werden sie äußerst einfach finden, mich
aber zog sie aus allerlei Gründen an, die ich jetzt nicht erörtern
will. Sagen Sie kurz und offen: wollen Sie mit mir nochmals ins Haus
gehen und fühlen Sie sich aufgelegt, etwas von Ihrer Zeit an diese
Geschichte zu verlieren, die auch mich schon ohne Nutzen manche Stunde
gekostet hat? Ich möchte nicht zu-, ich möchte abraten. Übrigens, wenn
Sie befehlen, nehme ich jetzt schon die Blätter des Manuskripts und
werfe sie in den Abgrund hinunter«.

Selbstverständlich geschah dies nicht. Er nahm den Weinkrug, ging mit
dem Besucher ins Haus, und beide saßen einander gegenüber. Der
Berghirt hatte ein in Mönchsschrift und auf starke Blätter
geschriebenes Manuskript aus feinstem Ziegenleder gewickelt. Wie um
sich Mut zu machen, trank er dem Besucher, eh er gleichsam vom Ufer
abstieß, um sich in den Fluß der Erzählung zu stürzen, noch einmal zu
und begann dann mit weicher Stimme.

Die Erzählung des Berghirten

An einem Bergabhang oberhalb des Luganer Sees ist unter vielen anderen
auch ein kleines Bergnest zu finden, das man auf einer steilen, in
Serpentinen verlaufenden Bergstraße in etwa einer Stunde, vom Seeufer
aus gerechnet, erreichen kann. Die Häuser des Ortes, die, wie an den
meisten italienischen Plätzen der Umgegend, eine einzige,
ineinandergeschachtelte, graue Ruine aus Stein und Mörtel sind, kehren
ihre Fronten einem schluchtähnlichen Tale zu, das von den Auen und
Terrassen des Fleckens und gegenüber von einem mächtigen Abhang des
überragenden Bergriesen Monte Generoso gebildet wird.

In dieses Tal, und zwar dort, wo es wirklich als enge Schlucht seinen
Abschluß nimmt, ergießt sich von einer wohl hundert Meter höher
gelegenen Talsohle ein Wasserfall, der je nach Tages- und Jahreszeit
und der gerade herrschenden Strömung der Luft, mehr oder weniger
stark, mit seinem Rauschen eine immerwährende Musik des Fleckens ist.

In diese Gemeinde war vor langer Zeit ein etwa fünfundzwanzigjähriger
Priester versetzt worden, der Raffaele Francesco hieß. Er war in
Ligornetto geboren, also im Tessin, und konnte sich rühmen, ein
Mitglied desselben, dort ansässigen Geschlechtes zu sein, das den
bedeutendsten Bildhauer des geeinten Italiens hervorgebracht hatte,
der ebenfalls in Ligornetto geboren wurde und endlich auch dort
gestorben ist.

Der junge Priester hatte seine Jugend bei Verwandten in Mailand und
seine Studienzeit in verschiedenen Priester-Seminaren der Schweiz und
Italiens zugebracht. Von seiner Mutter, die aus einem edlen
Geschlechte war, stammte die ernste Richtung seines Charakters, die
ihn ohne jedes Schwanken schon zeitig dem religiösen Beruf in die Arme
trieb.

Francesco, der eine Brille trug, zeichnete sich vor der Menge seiner
Mitschüler aus durch exemplarischen Fleiß, Strenge der Lebensführung
und Frömmigkeit. Selbst seine Mutter mußte ihm schonend nahelegen, daß
er als künftiger Weltgeistlicher sich ein wenig Lebensfreude wohl
gönnen möge und nicht eigentlich auf die strengsten Klosterregeln
verpflichtet sei. Sobald er die Weihen empfangen hatte, war es
indessen sein einziger Wunsch, eine möglichst entlegene Pfarre zu
finden, um sich dort als eine Art Eremit, nach Herzenslust, noch mehr,
als bisher, dem Dienste Gottes, seines Sohnes und dessen geheiligter
Mutter zu weihen.

Als er nun nach dem kleinen Soana gekommen war und das mit der Kirche
verbundene Pfarrhaus bezogen hatte, merkten die Bergbewohner bald, daß
er von einer ganz anderen Art als sein Vorgänger war. Schon äußerlich,
denn jener war ein massiver, stierhafter Bauer gewesen, der die
hübschen Weiber und Mädchen des Orts mit Hilfe ganz anderer Mittel in
seinem Gehorsam hielt, als Kirchenbußen und Kirchenstrafen. Francesco
dagegen war bleich und zart. Sein Auge lag tief. Hektische Tupfen
glühten auf der unreinen Haut über seinen Backenknochen. Hierzu kam
die Brille, in den Augen einfacher Leute noch immer Symbol
präzeptoraler Strenge und Gelehrsamkeit. Er hatte nach Verlauf von
vier bis sechs Wochen, auf seine Art, die erst ein wenig
widerspenstigen Weiber und Töchter des Orts ebenfalls, und zwar noch
mehr als der andere, in seine Gewalt gebracht.

Sobald Francesco durch die kleine Pforte des an die Kirche
geschmiegten Pfarrhöfchens auf die Straße trat, ward er auch meist
schon von Kindern und Weibern umdrängt, die ihm mit wahrer Ehrfurcht
die Hand küßten. Und wie viele Male des Tags er durch die kleine
Kirchenschelle in den Beichtstuhl gerufen wurde, das machte am Abend
eine Zahl, die seiner neuangenommenen, beinahe siebzigjährigen
Haushälterin

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