“…ganz unverhofft…“

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Ich stutzte und las die Meldung noch einmal. Aber ich hatte mich nicht verlesen, es stand genau so da, druckschwarz auf zeitungsweiß: „…Der Angegriffene berichtet glaubhaft, er habe in den etlichen Jahren des Zusammenwohnens niemals Kontakt mit dem Angreifer gehabt. An jenem Abend sei dieser ganz unverhofft in sein Zimmer gestürzt und habe mit dem Messer auf ihn eingestochen…“

Unverhofft: Das klingt nach Glückseligkeit, nach erfüllten Wunschträumen – aber, in diesem Zusammenhang? Was für ein Mensch muss das sein, der sich wünscht und davon träumt, dass ein anderer Mensch in sein Zimmer stürmt und mit dem Messer auf ihn einsticht? Und: Wie kann man mit jemandem etliche Jahre zusammenwohnen und niemals Kontakt mit ihm haben? So etwas gibt es doch wohl nicht.

„Und doch stimmt es.“ Seine leise Stimme kam so unerwartet, dass sie mich erschreckte. Er lächelte verlegen. „Entschuldigen Sie, dass ich so einfach in Ihre Gedanken trete. Aber jemandem muss ich es sagen, und wenn Sie schon grad‘ daran denken… Ich hab‘ die Meldung auch gelesen, und ich hab‘ mich gleich gefragt: Woher wusste die Reporterin das!? Sie konnte unmöglich die Wahrheit wissen, niemand konnte von dem wissen, was in mir vorging, was in mir brodelte, mir keine Ruhe ließ, seit Jahren schon.

Gleich, als ich ihm das erste Mal begegnet bin, war ich Feuer und Flamme für ihn. Er strahlte eine solch ungezügelte Kraft aus, eine – wie mir schien - mühsam zurückgehaltene Brutalität, dass er mir auf den ersten Blick vorkam wie die Erfüllung meines ganz, ganz innersten Wünschens.

Er jedoch nahm gar keine Notiz von mir.

In dem engen Flur unserer Wohngemeinschaft ging er so nah an mir vorbei, dass seine Lederjacke mich streifte. Während ich noch seinem Tiergeruch nachschnüffelte – viel Mann, ein wenig Schweiß und ein Hauch von Rasierwasser -, bedauerte ich lebhaft, mich so nah an die Wand drücken zu müssen, aber seine unerwartete und doch so oft schon phantasierte Erscheinung ließ es mir in den Schläfen und anderswo ganz seltsam werden, so dass ich den Halt dringend brauchte, den mir die Wand bot. Ach, wenn er mich doch mehr berührt hätte als nur mit dem Ärmel seiner Jacke! Bei unserem ersten Aufeinandertreffen, das für ihn keines war, hatte ich vor lauter Verblüffung gar nicht die Zeit, auf seine Hände zu achten.

Die Gelegenheit dazu ergab sich noch am selben Abend. Ich wollte gerade von außen die Tür aufschließen, als sie von innen aufging und der Neue heraustrat. Augenblicklich paralysierte mich dieselbe Eislanze wie am Vormittag. Ich merkte, wie mein rechter Mundwinkel unkontrolliert zuckte, war aber nicht einmal fähig zu einem Hallo. Ich stand nur und schaute. Wieder nahm er mich gar nicht wahr. Er war zu sehr damit beschäftigt, den Wohnungsschlüssel auszuprobieren und dabei konnte ich seine Hände sehen. Pranken – zum ersten Mal in meinem Leben passte das Wort Pranken – überwältigend und überdimensional! Ich sank ächzend gegen die Wand und verfolgte, bis in die Grundfesten erschüttert, sein Hantieren. Der kleine Sicherheitsschlüssel zwischen seinen Fingern wirkte wie aus Silberpapier. Er schloss ein paarmal hin und her, dann grunzte er befriedigt und ging über das Ächzen der Stufen wie über meines hinweg. Erst, als ich die Haustür hörte, erwachte ich aus meiner Erstarrung.

Irgendwie bekam ich die Wohnungstür auf, irgendwie meine Zimmertür, dann erst gestattete ich meinen bebenden Beinen nachzugeben. Ich verkroch mich unter die Decke und erlebte jede Einzelheit wieder und wieder. Diese Hände, was könnten diese Pranken alles mit mir machen, und wie willig würde ich mich ihnen ausliefern!

Am nächsten Morgen erwachte ich glücklich und wusste im ersten Moment nicht, wieso. Auf der Seite liegend, riss es mir förmlich die Knie unter den Bauch, als es mir wieder einfiel; ich seufzte wohlig und kuschelte mich tiefer in mein Bett.

Die ganzen folgenden Wochen über schwebte ich in anderen Regionen, immer wieder durchzuckten mich Blitze, wenn ich an ihn und seine Hände dachte, und ich konnte mich schwer wieder konzentrieren. Die Anzüglichkeiten der Kollegen berührten mich nicht; auch, dass der Meister davon sprach, ich solle zum Teufel endlich meinen Hormonhaushalt in den Griff kriegen, ließ mich kalt. Es machte mich nur langsam nervös, dass dieser fleischgewordene Mann-Traum MICH so überhaupt nicht zu sehen schien. Aber, war das ein Wunder? Noch nie war ich für irgendjemanden von Interesse gewesen, warum sollte es ausgerechnet jetzt anders sein? Ich hasste meine unscheinbaren, kleinen Eltern, die ihre unscheinbaren, kleinen Gene zusammen geworfen hatten, damit aus der doppelten Bejahung diese Verneinung entstehen konnte, diese Null-Minus, die ich war, eine skizzierte Absicht eher als ein ernst zu nehmender Mensch.

Wenn ich mich so erinnere, ist der Einzige, der mich je bemerkte, Witlof gewesen. Wenn der sich über irgendwas geärgert hatte, ließ er mich nach vorne kommen und mich mit bloßem Hinterteil über einen Stuhl legen. Völlig gleichgültig, ob ich Schuld hatte oder nicht. Anfangs grölten die anderen noch, wenn er mit dem Rohrstock auf mich eindrosch. Als er dann aber von Mal zu Mal länger brauchte, bis er wieder aufhörte, so lange, bis sein schweißüberströmtes Gesicht dunkelrot angelaufen war, er kaum noch Luft bekam und zitterte, machte sich in der Klasse langsam betretenes Schweigen breit. Kurze Zeit, nachdem einmal, unmittelbar vor Erreichen dieses Punktes, der Direx in den Raum gestürzt war und ein Riesentheater veranstaltet hatte, kam Witlof nicht mehr. Man teilte uns einen neuen Lehrer zu, und ich gehörte wieder nur zur Raumausstattung. Niemand trauerte Witlof nach, auch ich nicht; trotzdem fehlte mir etwas. Wiedergesehen habe ich ihn nie.

Nach einigen Wochen gab mir der Meister eine schriftliche Abmahnung, vier Wochen später kam per Einschreiben die zweite und wieder vier Wochen später die Kündigung. Ich hatte wirklich versucht, mich zu ändern, aber meine Gedanken fanden immer wieder den Weg zum IHM, was konnte ich da schon Großes leisten…

Das Arbeitslosengeld reichte mir. Ich brauchte ja kaum etwas. Ich war jeden Tag in meinem Zimmer und lauschte nach draußen. Schon bald konnte ich am Knarzen der Stufen erkennen, dass er es war, der nach Hause kam, und mein Herz überschlug sich. Er ignorierte mich nach wie vor, nur manchmal grunzte er leicht, wenn es mir gelang, ihn abzupassen und zu grüßen. Einmal sagte er sogar Danke, als ich ihm ein Einschreiben überreichte, das für ihn gekommen war. Aber ansonsten schien er mich eher zu meiden.

Jede Woche brachte er eine andere blöde Schnalle mit, und es schien ihm Spaß zu machen. Sein Zimmer lag genau neben meinem, und wenn diese Tussis da waren, brauchte ich noch nicht einmal ein Glas an die Wand zu legen, um zu hören, was nebenan vor sich ging. Ihr Stöhnen und Schreien brachte mich anfangs an den Rand der Verzweiflung, aber da Ohren zuhalten nichts nützte, machte ich aus der Not eine Tugend.

Nur eine Wand trennte unsere beiden Betten. Ich legte mich in meins, machte meine Augen zu und stellte mir vor, ICH sei im Zentrum seiner Begierde. Oh, wie gerne ich sein Sklave gewesen wäre! Meine Phantasie reichte endlos weit, wenn ich mir Spiele ausdachte, die uns beiden Freude bereiten würden. Oh, wie ich die Kraft seiner Hände liebte, besonders, wenn ich sie auf meinem Körper phantasierte!

Ich tat, was in meiner Macht lag, damit er sich wohlfühlte. Seinen Teil der Hausarbeit hatte ich stillschweigend mit übernommen – er schien es so wenig zu bemerken wie mich. Auch, dass seine Post immer auf seinem Tisch lag und er sein Fenster nie putzen musste, wunderte ihn nicht. Ich hatte mich angeboten, für alle die Schuhe zu pflegen, damit ich unbemerkt noch mehr für ihn tun konnte. Ich wusch sein Geschirr ab, und in sein Kühlschrankfach stellte ich zur Überraschung öfter leckere Kleinigkeiten, von denen ich wusste, dass er sie mochte.

Dreieinhalb Jahre solcher Liebesdienste hatten mich ihm keinen Deut näher gebracht. Meine Sehnsüchte wurden immer drängender und meine Phantasien immer wilder, je länger sie unbefriedigt blieben.

Wenn er und die anderen nicht da waren, zog es mich jetzt noch häufiger in sein Zimmer. Ich suchte sein Bettzeug nach seinen Haaren ab und sammelte sie in einem Honigglas. Sein grünes T-Shirt leistete mir nachts Gesellschaft und ich benutzte die gleiche Seife, das gleiche Shampoo und das gleiche Rasierwasser wie er. Rätselhafterweise gelang es mir immer seltener, ihn zu treffen, und wenn doch, übersah er mich geflissentlich. Konnte es meine Einbildung sein, dass ich auf seinem Gesicht einen seltsamen, geradezu verächtlich zu nennenden Ausdruck zu entdecken meinte?

Seine Weiber und was sie mit ihm trieben, machten mich mit der Zeit verrückt. Sie versuchten doch alle nur, ihn unter ihren Pantoffel zu kriegen. Und dabei hätte er nur ein Zimmer weiter einen genügsamen Diener gehabt, der ihm jeden, wirklich jeden Wunsch von den Augen abgelesen hätte. Warum musste er falsches Glück am falschen Ort suchen?

Wenn er nicht da war und ich mich einsam und verloren fühlte, kuschelte ich mich in sein Bett und tröstete mich in der Umarmung seines Duftes. Diese Stunden entschädigten mich für Vieles. Und genau dabei entdeckte ich eines Tages ihr Bild.

Nie hatte er ein Bild von einer seiner Nutten auf dem Nachttisch gehabt, dafür wechselte er sie zu häufig. Und plötzlich grinste mich da diese Schlampe aus dem Silberrahmen an! Sie grinste und grinste und machte sich so richtig lustig über mein blankes Entsetzen. Ich sprang aus dem Bett, haute den Rahmen und das Glas kurz und klein und zerriss ihr Grinsen in winzig kleine Fetzen. In meinem Bett zog ich mir die Decke über den Kopf und weinte mich in den Schlaf.

Und dann passierte das, was in der Zeitungsmeldung stand: Ganz unverhofft kam plötzlich ER in mein Zimmer gestürzt – ich glaubte, noch zu träumen. Er entdeckte mich in meinem Bett und fiel über mich her. Seine Fäuste schlugen auf mich ein, und er brüllte etwas. Wie göttlich er in seiner entfesselten Brutalität war! Ich MUSSTE ihm doch einfach um den Hals fallen und ihn küssen, konnte ich etwas anderes tun?!

Er gurgelte irgendwelche Laute, und plötzlich stach er mit seinem Schnappmesser in mich hinein, immer wieder und wieder in orgiastischem Rhythmus, mit voller Kraft und Härte. Das war noch viel wundervoller als alle meine Phantasien!

Als die anderen, durch sein Gebrüll alarmiert, ihn von mir trennten, dachten sie, mein Schluchzen stünde für Schmerz und Schock. Sie versuchten gemeinsam, mich zu trösten und redeten auf mich ein, bis der Rettungswagen kam. Sie wussten ja nicht, dass ich keine Schmerzen spürte, nur Lust, pure Lust!, dass ich vor Glück weinte, vor Glück und übergroßer, endlich so reich erfüllter Liebe.

Natürlich erzählte ich dem Richter nichts von alldem, ich bezweifle, dass er es verstanden hätte. Deshalb verblüffte es mich ja auch so, dass die Reporterin mit ihren knappen Worten dennoch die Wahrheit so treffend beschrieben hat. Intuition? Ich kann nur für mich hoffen, dass es wirklich bloß ein Zufall war. Aber: Wenn ICH nichts sage – IHM würde man nichts glauben.
Dort.
Wo er jetzt ist…“

Seine Stimme war gegen Ende immer leiser geworden. Er blickte versonnen ins Nichts, und sein Lächeln wirkte traurig. „Danke, dass Sie mir zugehört haben, ohne mich zu unterbrechen, das hat es mir leichter gemacht, das musste raus. Wissen Sie, dort ist er wenigstens vor den Weibern sicher, auch, wenn er mir fehlt…!“, sagte er und verblasste so unvermittelt, wie er erschienen war.

„Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde…“, schoss mir durch den Kopf. Ich faltete die Zeitung zusammen und setzte mich an den Schreibtisch.
Besser, ich schriebe alles auf, bevor der Eindruck verblasste.

noé/1991

Beschreibung zu "...ganz unverhofft..."
Diese Geschichte wurde inspiriert durch das eingangs erwähnte echte (!) Zitat aus einem Artikel der RZ Koblenz vom 08.02.1991.
Ich muss leider feststellen, dass flächendeckend der Umgang mit der deutschen Sprache immer schlampiger wird.
(Allein schon, als ich die Werbung hörte: "Kaffee ist nicht Kaffee", kam‘s mir regelmäßig hoch. Was ist es denn dann?
Vielleicht waren sie unfreiwillig ehrlich, der Kaffee dieses Herstellers schmeckt wirklich nicht, wie Kaffee normalerweise schmeckt... Aber das lassen wir mal ...)

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Kommentare

05. Jan 2016

Die Geschichte kannte ich bereits -
Doch stark behielt sie ihren Reiz!
Gut geschrieben, psychologisch geschickt -
BESTICHT, wie sie in jenen Kopf hier blickt...
(Unverhofft sehr oft ja kommt -
Kaum erhofft - stattdessen prompt....
Mancher sticht sehr gern - in See!
In seinen Nachbarn? Also nee...)

LG Axel

05. Jan 2016

Stimmt, Axel, diese Geschichte hatte ich schon im SN veröffentlicht, Aber urplötzlich wollte sie auch hierher. Und vielleicht ist sie es auch wert.