DE Die Vier-Dora, die Bierzeitung und deren Auswirkungen

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Über eine Rabaukenklasse der Realschule Wersten, Düsseldorf in den 1950er Jahren. Ihr Klassenlehrer hieß Theodor Vychodil.

"Die Vier-Dora" ist einer meiner vier Gedichtbeiträge zu unserer "einmaligen" Schülerzeitung (wir nannten sie "Bierzeitung") zum Schulabschluss unserer Klasse 6D an der Städtischen Realschule für Jungen, Wersten in Düsseldorf am 22. März 1960. Ich hatte vorher nie mit dem Gedanken gespielt, Geschichten in Gedichtform zu schreiben. Nut tat ich es. Ich probierte es und es ging. Wahrscheinlich machte es auch Spaß, sonst wären es nicht vier Stück geworden. (Sie befinden sich am Schluss dieser Erzählung.)
Wir feierten mit unserem Klassen- und anderen Lehrern in einer Kneipe und lasen ihnen unsere Texte vor. Sie sparten nicht mit Lob. Dieser gemeinsame Abschied wurde der versöhnliche Abschluss einer turbulenten Zeit, nachdem die Lehrerschaft die "Schnapsidee" hatte, aus drei etwas zu großen Klassen eine vierte zu bilden: die 4D. Man nahm die Ältesten - und damit zum größten Teil auch die Wildesten - aus jeder Klasse und "erschuf" die 4D. Der neue Direktor gab uns einen 32-jährigen, unerfahrenen Lehrer, der sich aber mit der Zeit unseren Respekt "erarbeitete". Dazu brauchte es aber auch eine "Säuberungsaktion" in den folgenden zwei Jahren. Unsere Abschlussklasse 6D hatte nur noch 16 Schüler - und zufriedene Lehrer.

Die oben genannte "Bierzeitung" und meine "dichterischen" Beiträge wurden gut 50 Jahre lang von meiner Erinnerung nicht behelligt. Ein ganzes Leben mit Beruf und Familie verhinderte dies. Doch 2013 meldete sie sich, als ich - ohne dies vorher irgendwie "gewollt" zu haben - spürte, dass ich mich in Gedichtform ausdrücken möchte. Da, als Rentner, erinnerte mich, dass ich "das" ja schon mal gemacht hatte. Ich suchte und fand die "Bierzeitung" bei den wenigen Dingen, die ich bei meinem Umzug nach Schweden mitnahm. Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge, der einen Schatz gefunden hat.

Ich suchte auch nach einer Erklärung, warum ich 2013 anfing, mich mit Gedichten zu befassen. Ein Grund ist ganz offensichtlich: In der Nacht vom 13. zum 14. Februar hatte ich in Hobart, Tasmanien ein diesbezügliches Schlüsselerlebnis. (Für Interessierte: siehe https://www.literatpro.de/prosa/040416/au-2013-schluesselerlebnis-in-hobart)
Ich habe eigentlich nie nur zum Spaß geschrieben, habe eine miserable Bleistiftführung und damit Handschrift. Im Berufsleben (ich war Ingenieur) schrieb ich natürlich eine Menge technisches Zeug, hatte keine Probleme mich auszudrücken. 1971 war eine Ausnahme. Da schrieb ich mit Freude, wenn auch mit unschönem Handstil. Ich schrieb Liebesbriefe an meine jetzige Frau, als sie in Schweden und ich in Deutschland war.

So im Nachhinein finde ich noch einen Baustein. Ende des zweiten Jahrtausend schraubte ich meine Ingenieurtätigkeit zurück und wurde selbstständiger Übersetzer von technischen Texten. Ich merkte, dass mich schwierige Texte nicht bedrückten sondern anspornten. Ich wurde ein "Wordfinder".
Aber das genussvolle "schreiben wollen" muss hauptsächlich mit unseren vier Australienreisen (jeweils drei Monate) zu tun haben. Ich fühlte mich gezwungen, unsere fantastischen Eindrücke und Erlebnisse, die uns wie Wellen überspülten, in Reiseberichten aufzuschreiben.
Aber in den folgenden zwei Jahren fühlte ich mich unsicher, gereizt und wusste nicht so recht was ich eigentlich tat und warum. Durch eine gewisse Ermunterung von ein, zwei kompetenten Personen bekam ich Sicherheit.

Zurück zur "Bierzeitung" und der 6D.
Anfang 2017 suchte und fand ich via Google unseren damaligen Klassenlehrer, Herrn Theodor Vychodil und führte ein langes, wunderbares Telefongespräch mit ihm. Die Zeit hatte ihn nach Heidelberg getragen. Nach fast 57 Jahren hatte er wieder einen direkten Kontakt mit einem Schüler aus dieser Zeit, und ich mit ihm. Er erinnerte sich noch genau: Der Direktor, der von allen geschätzte Herr Grimoni, übergab ihm die 4D mit dem aufmunternden Hinweis: "Das ist eine Rabaukenklasse!"

Herr Vychodil ist in Prag geboren, kam nach dem Krieg nach Wien und 1956 nach Deutschland. 1958 wurden wir seine erste Klasse, er hatte es nicht leicht. Aber auf der anderen Seite passte er zu uns: Er war jung. Bisher hatten wir nur mit alten Lehrern und Lehrerinnen zu tun, Überbleibsel vom Krieg. Seine ersten Fragen an uns handelten um die aktuellen Ergebnisse der Fußball-Oberliga, in der Fortuna Düsseldorf eine wichtige Rolle spielte. Das war ein gelungener Einstieg.
Unser Schulabschluss 1960 war gleichzeitig auch das Ende der provisorischen Schule, in der wir sechs Jahre untergebracht waren. In der Aula der neuen, nun wirklich in Wersten, wurden wir feierlich verabschiedet.

Herr Vychodil ist jetzt (2017) 92 Jahre alt. Er hatte die Fächer Mathematik, Physik, Chemie und Sport. In allen war er hervorragend. Sport liebte er wohl am meisten. 1956-1961 war er Trainer der deutschen Basketball-Nationalmannschaft. 1958 kam er zu uns und lehrte uns MaPhyChe und "Leibesübungen". 1965 verließ er die Realschule Wersten und ging zu einer anderen in Düsseldorf. (Laut dem ehemaligen Schüler Jost Becker war Herr Vychodil noch bis 1968 oder 69 in der Realschule Wersten tätig.)
Das Jahr 1968 hat er in keiner guten Erinnerung: "Die Schüler rebellierten, wie fast alle junge Leute im Land, z.B. standen sie nicht mehr auf, wenn der Lehrer in die Klasse kam."
Kurz vor der Pensionierung ging er nach Bayern. Heute wohnt er in Heidelberg. Als begeisterter Tennisspieler ist er Mitglied in einem Tennisclub, obwohl die Beine nicht mehr so richtig wollen.
Zum Ausgleich dreht er bis zu fünfmal in der Woche seine Runden im Schwimmbad.

Unser 70 Minuten langes Gespräch war nicht nur mein längstes überhaupt. Es war vor allem ein interessantes, aufbauendes und auch ein wichtiges:
Ein Kreis hat sich geschlossen. Nun können er und ich in Ruhe älter werden, ohne denken zu müssen: "Was ist eigentlich aus ihm geworden?"
**
Ich möchte nicht versäumen, auf diesem Wege meine ehemaligen Klassenkameraden der 4-6D zu grüßen. Meine E-Mail-Adresse: swegerau@gmail.com

***
Jost Becker, der einige Jahre nach mir von Lehrer Vychodil unterrichtet wurde, schickte mir diese schöne Episode:

Jeder Schüler musste zu Beginn des gesamten Unterrichts bei ihm ein mindestens 80 Seiten umfassendes, DIN A 6 großes (Größe Vokabelheft) kariert liniertes Notizbuch für jedes Fach mitbringen, in dem über die Jahre alle Basics zum Nachlesen und Lernen notiert wurden - von Herrn Vychodil genaustens diktiert und teilweise an die Tafel geschrieben. In Physik standen da im Wesentlichen Formeln drin und in Chemie Reaktionsgleichungen und Atom- und Molekülbezeichnungen mit den wichtigsten Angaben. Die Inhalte musste man zu jeder Zeit vorwärts, rückwärts, seitwärts auswendig singen können. Ach ja und selbstverständlich mussten

© Willi Grigor, Januar 2017

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Kommentare

12. Jan 2017

Wunderbar! Vor allem auch dein Begleittext.

Liebe Grüße Lisi

12. Jan 2017

Solch Fahrt in die Vergangenheit
Sicherlich kein Leser scheut!

LG Axel

12. Jan 2017

Auch deine Worte mich erfreuen!

Herzliche Grüße
Willi

12. Jan 2017

Schöne Kommentare von euch beiden, danke.

LG
Willi

08. Mär 2019

Lieber Willi,
ich las gerade Deine Zeilen und musste schmunzeln :)
Wie's aussieht, wart Ihr ein lustiger Haufen, der es den Lehrern nicht leicht gemacht hat.
Schöne Erinnerungen hast Du da, in die ich gerne hineintauchte, um festzustellen, dass wir nicht anders waren, als Ihr (geboren 1969).
Sie ist schön, die Jugend, lieber Willi. Nie wieder erlebte ich Gefühle so intensiv, wie in der Jugendzeit, vor allem die erste Liebe. Auch ich denke gerne zurück und frage mich, was aus den Mitstreitern wohl geworden ist.

Liebe Grüße
Ella

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