Essay Nr. 2 - Hesses Negerlesbe

Bild von Klaus Mattes
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Mindestens drei Dinge sind unverzichtbar, wenn man die eigene Persönlichkeit und ihre Lebensgeschichte im Internet performen will. Man sollte etwas allgemein Interessierendes an sich haben oder erlebt haben. Man sollte sich aufs Performen verstehen. Das ist überhaupt das Entscheidende, denn nicht, wie unerhört die Begebenheiten eines einzelnen Lebens sind, entscheidet, sondern das Vermögen des Darbietenden, sein Publikum zu fesseln. Und außerdem muss man unerschrocken, couragiert, rücksichtslos gegen sich selbst, aber auch gegen Dritte sein können, sofern sie ins erzählte Leben verwickelt waren.

Rainer Maria Rilke wie Hermann Hesse haben ihrer Lebtag lang performt, haben an der öffentlichen Wahrnehmung ihres individuellen Seins, mit seinen unvermeidbar oftmals recht läppischen Alltäglichkeiten, munter herumdesignt. Nein, das war nicht noch ein melancholisches Sonett mit Anspielungen auf die alte Stadt Brügge, das war vor allem ein Werk dieses Stilisten aus Prag. Und was jener pietistische Schwarzwälder sich aus den Werken Mozarts und Goethes zur Spiegelung und Ermunterung der eigenen Geschichte zusammengesucht hatte, war gerade darum so motivierend, weil es von einem nickelbrilligen Friedensapostel und Nacktkletterer stammte. Mozart hören konnte jeder, exemplarisch leben nicht!

Viele Menschen, die es selber nicht tun, stellen sich das Schreiben wie einen Beruf in der Manier anderer Berufe vor, sagen wir den eines Versicherungsmathematikers oder Kundenberaters im Bürgerzentrum. Daheim in der Freizeit ist man das Eine, dann putzt man sich auf, zieht vielleicht einen weißen Kittel an, stellt sich für Stunden hinter den Tresen und erfüllt als Jemand, der man eigentlich nicht ist, als Funktionsfigur, nunmehr nur noch die Bedürfnisse seiner Kundschaft.

Kann sein, nach Büroschluss geht man heim, nimmt die Kinder mit und isst was bei McDonald’s. Andere treffen ihre Freundin und gehen mit dieser in ein Konzert von „Unheilig“. Wo aber jeder in so einem McDonald’s mal gegessen hat und drei Reihen weiter jeder die Feuerzeugflamme hochhalten kann beim Graf, kriegt ein Laie das Gefühl, über so was kann der Schriftsteller nicht schreiben, das gehört nicht zur Sphäre von dessen Berufstätigkeit. Das ist bei uns hier ist alles so üblich, ist keine Kunst. Gleich empfindet man, dass man über McDonald’s fast nichts schreiben könnte. Wer Sonette über Brügge schreibt, darf hingegen Lautenmusik aus der Renaissance gern haben, meinetwegen „Unheilig“ Scheiße finden. Gehört alles zu dessen Beruf.

Schlägt man die Bücher echter, wirklicher, respektierter, weltbekannter Schriftsteller nach, was kommt vor? Bestimmte Figuren schicken Menschen in den Tod hinein; andere Figuren gehen dagegen freiwillig in den Tod zur Rettung Dritter. Selbst hat man nie einen umgebracht und würde, ehrlich, auch für keinen von den anderen gleich durchs Feuer laufen. Die eigenen Kinder zählen irgendwie nicht so; das gesteht einem der Leser zwar zu, findet es für sein eigenes Selbst aber kaum von Interesse. In Büchern werden oft auch noch Ehen gebrochen. Oder einer kriegt Krebs und der weiß, dass er drei Monate zu leben hat. Der sucht das wirkliche Glück in allem. Dann wieder treten manchmal üble Kerle auf. Sie starren Teenager-Mädchen beim U-Bahn-Fahren in den Ausschnitt und kreisen mit der nassen Zungenspitze um ihren aufgesperrten Mund, in dem eklige Speisereste erkenntlich sind.

Zwar kann schon sein, dass man das selber sogar mal so getan hat. Bloß, wenn man dann ein Schriftsteller ist, will man diese Episode aus der Privat-Anwesenheit in Form des Kunstwerks nicht in die Ewigkeit hinausschicken. Obwohl man ein echter Dichter ist, hat man niemals Vollräusche wie Dylan Thomas oder Malcolm Lowry. Man fickt keine Babys wie Urs Allemann. Und man verprügelt keine Frauen. Man bohrte nie in der Nase, wenn man in einer Richard-Strauss-Oper saß. Auch wäre es keine Kunst, über dergleichen zu schreiben. Peinlich wäre es.

Man kräuselt die Stirn. Man sitzt am Schreibtisch, schlägt nach Jahren das Fachbuch noch einmal auf. „Wie schreibe ich einen Roman?“ Man starrt ins Laptop. Gestern war alles klar. Man gibt ein:

„Der Mann war tot. Trampel hatte schon viele Leichen gesehen, aber diese hatte was von Bayreuth um zweiundzwanzig Uhr dreißig.“

So etwas nennt sich Aufmerksamkeits-Catcher für am Einstieg. Sie sagen jetzt „Geklaut“, aber nein, sage ich hinterher, geklaut ist da nichts. Sagen Sie mir einmal, woher ich das geklaut haben soll!

Die Wahrheit ist, irgendwann erleben irgendwelche Menschen Großes. Aber der große Mensch erlebt genauso wenig Großes wie Sie, ein kleiner Mensch, der andere kleine Menschen sinnlos des Plagiats bezichtigt. Es ist doch so: Man macht irgendwas, im Grunde fast egal. Hinterher erschreibt man die Größe darin hinein. Nehmen wir den Peter Handke!

Der Peter Handke wandert Kilometer um Kilometer durch die platte Ebene auf das große elsässische Gebirge zu. Und mit einem Mal sieht er weit droben, oben am kahlen Gipfel, da sieht der Peter Handke sich selber schon stehen und zwar zusammen dort stehen und in die Ewigkeit hinaussehen gemeinsam mit seiner Verflossenen, der Schauspielerin, und ihrer gemeinsamen kleinen Tochter. Handke kann die drei Personen jetzt noch einigermaßen schlecht erkennen; es beißt in seinen Augen; denn er ist tief drunten an diesem Tag, außerdem in der Zukunft von dieser, seiner aufgeschriebenen Situation. Aber doch: Er sieht sich.

Thomas Bernhard steuert durch ein enges Bachtal seinen Käfer um eine Kurve, wo unterhalb der Straße das Wasser reißend wird und das Tal den Käfer fast zerstampft und mit einem Mal steht ein Haus da. In dem Haus wohnt ein Mann, der stopft Tiere aus für seinen Lebensunterhalt. Tote Tiere, die er nachher verkauft. Früher war das Haus eine Mühle, jetzt wohnt dieser Tierpräparator drinnen und der heißt Höller. Ha, denkt der Thomas Bernhard, super Platz, um den Helden aus meinem entstehenden Roman drin wohnen zu lassen, den Selbstmörder, kalt bis ins Herz in der Klamm am schnellen Wasser, umgeben von gestopften Tieren. Besser ausdenken hätt‘ ich mir’s nicht können.

Derweil läuft Hermann Hesse, ein noch junger Buchhändler, durch Basel, eine Stadt am Rheinknie, unweit der elsässischen Ebene. Selbst in Basel schon springen einem zu jener Zeit herrlich aussehende Lesben mit Bubikopf ins Auge. Diese rauchen ohne Unterlass Zigarette aus einer Seekorallen-Spitze und hören dazu wilden Jazz. Wenig fehlt und Hesse, ein linkischer Charakter in Folge seiner Abstammung von baltischen Missionaren und pietistischen Württembergern, imaginiert zur Negermusik einen glänzenden Neger herüber aus einer Negerjazzbar, die es in Basel da auch schon hat. Die Bubikopf-Garconne lässt sich beschlafen von Hesses Neger und dessen Ausstattung, man muss nichts Genaueres schreiben drüber. Dann nehmen sie Kokain und haben eine zweite junge Lesbe dabei, auch diese verführerisch, kurzes Haar, knabenhaft feste Knospen. Mit ihr fahren sie im Automobil und es kommt zur Hochjagd auf die Automobile. Hatari! „Hatari - Schnee am Kilomachero“, so wird das Buch heißen, denkt Hermann Hesse. Es heißt dann letztlich anders, aber immer.

Der fundamentale Unterschied zu mir, hierbei, und uns allen anderen, ist, diese Leute, Hesse, Bernhard, Handke, sie sind durchgedreht. Sie glauben, die Welt wollte Bücher über die Bilder lesen, die ihnen während ihrem Käfer-Fahren, Elsass-Wandern und Jazz-Schnupfen durchs Gemüt rauschen.

Wir dagegen! Wir kommen von unserem Stehpult und nach dem Essen steht der Schreibtisch da und wir denken, was haben wir überhaupt noch zu erzählen, das sich machen könnte in so einem kurzen Buch wie vom Handke. Sind wir nicht fast genauso südwestlich um Basel mit der Tram halb herum gefahren wie Handke ums Paris mit der Vorortbahn?

Wir, wanderten wir einem Vogesen-Gebirge jemals entgegen, würden augenblicks Wasser stehen haben in unseren Augen, würden beim Käfer droben uns und daneben die verflossene Negerlesbe schon harren sehen, wie sie auf dem Saxofon das Sonett bläst. So ein Bild hätten wir im Kopf; wir hätten Wasser in den Augen. Aber wir würden davon ausgehen, dass die Welt das dennoch nicht lesen mag. Grand Ballon, Wanderer, Rucksack, Pfefferminztee, Negerlesbe ... Da ist nichts los! Das ist kein Buch! Und daher würden wir er hiermit sein Bewenden haben lassen. Wir würden es nicht aufschreiben. Wozu auch!

Ihn als allein erziehenden, ausländischen, schriftstellernden Hausmann hatte eines Tages die Lehrerin von der staatlichen Schule ironisch distanziert gemustert in der Sprechstunde, als skeptisch nachbohrender Vater einer Schülerin, ihn abgekanzelt. Da sagte sich der - nicht so willensschwache - Peter Handke, von der Person lasse ich mir das nicht bieten, mein Kind kommt auf eine katholische Konfessionsschule. Vor allem fällte er den Entscheid fürs Angesicht der Ewigkeit, fünf Seiten des Werks „Die linkshändige Frau“ dieser unverschämten Lehrerin zu widmen.

Oder Thomas Bernhard, er kannte manche Jahre, so in seinen jungen, mittellosen Jahren, einen Alkoholiker aus der besseren Wiener Gesellschaft. Dieser Mensch war dem jungen, unbekannten Schriftsteller vor vielen Jahren in etlichen Beziehungen nützlich geworden. Die Wege hatte sich aber getrennt und Bernhard hatte es zu Weltruhm gebracht. Der Reiche, der außerdem auch Musik komponierte, hatte es zu einer Reihe von Entziehungskuren gebracht. Es war bekannt, dass die beiden sich nicht mehr mochten. Also war Bernhard, als man ihn zu einer Abendgesellschaft im Oberösterreichischen lud, warnend gefragt worden, ob er kommen wolle, wo der Ding dann auch dort sei. Bernhard pflegte in dergleichen Runden sonst der einzige Perfomer zu sein, mit pausenlosem Gerede, Gesang und Anekdotenerfinden. Jetzt besaß aber der Gescheiterte auch noch die Unverfrorenheit, eine Streiterei anfangen zu wollen. Wütend stürzte Bernhard zu seinem Wagen, inzwischen handelte es sich um einen Mercedes, noch in den Hausschuhen steckend, die man ihm aus Bequemlichkeitsgründen aufgenötigt hatte. Bernhard fuchtelte mit seinem Arm, spuckte Tropfen und rief: „Dieser heutige Abend wird gewiss noch Folgen haben!“ Monate später war ein Buch komplett, das, neben anderen Inhalten, mit dem Jugendmäzen ein für alle Mal aufräumte. Nämlich, stand da, habe er sich alle ins Bett hinein holen wollen, welche er - vorgeblich wegen ihrer Talente - mäzeniert habe.

Daheim saß ich, als ich es hörte, am Schreibtisch, vor meinem Laptop, ohne Geschichte, sah wie mit patschnassen, halb angefrorenen Wollstrümpfen drei Kilometer durch den tiefen Neuschnee Thomas Bernhard ging und oben auf einer Oberkrainer Hütte seinen dampfenden Jagertee trank und diesen Socken auszog und hochhielt, wie dieser Socken dort also dampfte in der Klarheit der alpinen Kälte. Sah, dass Bernhards Geschichte daraus wuchs, ein Buch, und ich hingegen: keins!

Immer hätte es mich sehr interessiert, ein einziges Mal heimlich zu stehen hinter diesen Thomas Bernhard und zu sehen, damals, in dem übergroßen, rundum frisch restaurierten Vierkant-Bauernhof, aus dessen Hof ins Gebäude er kaum je einen hineintreten ließ außer der Hausbesorgerin. Vor allem nicht über Nacht! Wenn er alleine saß und eine Beethovensonate hörte. Unsichtbar hätte ich gestanden. Bernhard blätterte in einer Fernsehzeitung. Bernhard bohrte in seiner roten Nase. Ein großer langer, komplexiger, sowohl zähflüssig wie aber auch fester Rotzballen, Bernhard rollte ihn zwischen seinen Fingern trocken. Bernhard hämmerte den geharnischten Brief an seinen Verleger auf der amerikanischen Vorkriegsmaschine seines Großvaters. Die Hegel-Gesamtausgabe müsse her, bitte ohne Portonachzahlung expedieren, nicht via Gmundner Buchhandlung, diese Buchhandlung könne er nicht mehr betreten.

Manches Mal schaute Bernhard sich um. Kein Mensch war hier, er, ein Perfomer, ohne sein Publikum! Dann riss er aus aus dem zu großen Haus, das er sich anfangs zur Sicherheit fürs Restleben ersonnen hatte. In den Jaguar sprang er. Nach Istrien brauste er durch. Einen guten Fisch ließ er sich auftischen. Einen Weißwein in der Karaffe. Ah, dachte er, ich schreibe auch noch ein Stück mit einem Pantoffeltyrannen, der in einen großen Sessel sitzt und seine Schwester springen lässt, die Suppe ist nicht warm genug, die Suppe muss wärmer sein, die Suppe ist versalzen, man verbrennt sich die Zunge. Ah, dass doch alles, was ich anpacke, immer zur Kunst wird, dachte Bernhard und lächelte.

Hat man kein Publikum, das man mit der Darstellung von Bedeutsamkeit seiner denkenden Persönlichkeit quälen darf, kann man auch einpacken gehen.

Abends, wenn ich vom Büro komme und den Internetroman einschalte, wird mir offenbar, dass ich mein Leben lang nicht eine Person getroffen habe, die ihr Leben wie aus der Kunst heraus führte. Unzählige Internetautoren lesen meine Texte immer wieder nach und die schreiben mir anschließend hin und wieder bewundernde Nachrichten. Und dennoch gehen sie dann ins Fitnessstudio oder zum Gorilla mit ihren Kindern oder sie machen ihre Schreibtischleuchte an, tippen wieder was in der Art von Hesse, Handke, Bernhard. Jeder Einzelne von denen macht irgendwelche Bücher nach, weil in keinem der Leben von ihnen allen je Kunst war, immer war Kunst in den Büchern derer, die wir alle gemeinsam heute schon kennen.

Vielleicht sind sie alle aber auch darum so nett, so verständig. Man kann wunderbar reden über alles mit ihnen. Mit Hesse, Handke und Bernhard konnte ich immer über sie selber nur reden. Und mich, den Bedeutendsten.

Interne Verweise

Kommentare

22. Jul 2016

Erfrischend!
Aber genau so ist es, die Bedeutung des Gelesenen erwirbt es sich nur durch die Bedeutung, die der Leser ihm zumisst.
Macht der Baum im Wald im Fallen ein Geräusch, wenn niemand da ist, es zu hören?
Es kommt - scheint's - auf ein Ego an.