Von Edgar 9: Letztes Wiedersehen

Bild von Klaus Mattes
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Alle hatten gesagt: „Den kennst du auch.“
Edgar wusste nicht mal, wer der Adolf war, den er zusammen mit Frank im Krankenhaus besuchen würde. In letzter Zeit hatte er in der Szene zu oft erzählt, dass das doch schlimm sei mit Aids, dass man was tun müsse, dass er sich überlege, ob er sich als Buddy melden könnte.
Bis Frank gesagt hatte: „Ich besuche einen Bekannten. Der liegt im Krankenhaus und hat Aids. Komm mit, da hat er nichts dagegen. Ihr kennt euch wahrscheinlich sogar.“

„Aber ...“, hatte Edgar gesagt, „er hat mich nicht eingeladen. Bestimmt will er mit dir allein sein. Wenn das einer ist, der mich kennt, ist es vielleicht erst recht falsch, weil er mich nicht mag, kann doch sein.“

Dann hatte Frank etwas gesagt, das Edgar schachmatt setzte: „Edgar, sei mal ein Lieber, ja? Tu das für mich! Weißt du, der Adolf, dem waren die Leute scheißegal, den kümmert nicht, ob einer kommt oder keiner. Aber ich, ich schieb diesen Besuch über ’ne Woche vor mir her. Ich will eigentlich nicht mehr. Ich kenn den selber nur oberflächlich. Wenn du nicht mitkommst, wenn ich nicht weiß, ich bin verabredet, da wartet einer, dann find ich noch mal eine Ausrede.“

Das Krankenhaus, im Grunde waren es eine ganze Menge Häuser, die sich auf eine Art Campus verteilten, lag draußen auf den Hügeln. Wenigstens eine Aussicht gab es für die, die krank waren. Ohne sich zu kümmern, stürmte Frank am Empfang gleich vorbei und quer durch den Eingangsbereich, wo eine Menge Leute gingen oder saßen, teils nur mit Morgenmänteln und Pyjamas angezogen.

„Dieses Mal Chirurgie. Die Galle haben sie rausgenommen.“

Das Krankenhaus war neu. Alles sah geräumig und gepflegt aus. Überall standen Grünschalen oder hingen gemalte Blumensträuße. Der Gang machte einen Knick. Wie einen Wintergarten hatte man einen Glaskasten ans Gebäude gepappt, der anscheinend zum Raucherraum des Hauses erkoren worden war. Eine uralte Frau mit Morgenmantel, Nachthemd und Hausschuhen stand und paffte. Sie sah Edgar in die Augen. Allerdings war er sich nicht sicher, ob sie ihn überhaupt sah, geschweige, was sie von ihm halten würde.

Frank klopfte. Ein Laut, der alles Mögliche hätte sein können, kam von innen her. Frank ging hinein.

Der Raum war groß und hell. Ein hohes Bett aus Metall stand da. Platz war genug für zwei von dieser Sorte. Im Bett lag Adam. Er hob den linken Arm wie zum Gruß, sah aber nie hin zu ihnen, sondern auf einen Fernseher, der oben auf einer Platte stand.
Er sagte mit belegter Stimme: „Aha, der Frank. Hast du’s vereinbaren können mit deinen Beschäftigungen?“

Außerdem gab es ein Infusionsgestell, einen Tisch mit zwei Stühlen, in Halshöhe längs der Wand eine Leiste, an der Steckdosen und Lampen waren.

Frank blieb in Distanz zum Bett stehen.
„Hallo Adi!“, rief er munter. „Ich wollt die ganze Zeit kommen. Aber, weißt, wie‘s ist ... Hab’s spontan reingequetscht, hab auch keine Blumen. Aber magst du ja nicht. Ich hab dafür einen schnuckligen Kerl dabei, siehst du hier, der Edgar. Vielleicht kennt ihr euch? Der Edgar kommt immer ins Rio. Ist ein Kumpel vom Dieter und Herbert. Ich mein, kann dir vielleicht gut tun, wieder so was Nettes zu sehen.“
Die ganze Zeit quasselte der Fernseher, von dem Adam kurz nur wegsah, als er „Hallo“ raunzte.
„Hallo“, räusperte Edgar.

Adam hatte was gemerkt. Er angelte nach der Fernbedienung und stellte ihn stumm. Starrte aber immer weiter auf diese Vorabendserie.

„Komm, Edgar, setz dich“, sagte Frank und rückte die Stühle ans Bett, seinen ans Kopfende.
„Gib Acht auf die Infusion!“, schrie Adam laut.

„Ich weiß nie so recht“, nahm Frank einen Faden wieder auf, „ob man den passenden Zeitpunkt bei dir erwischt. Immer Untersuchungen. Und waren bestimmt ’ne Menge Leute hier. Und einige gehen dir eher auf den Sack. Der, ähm, Edgar, das ist ein Lieber.“

„Leute!“, bellte Adam. „Meine Eltern und der Rainer vom Rio. Sonst keine Sau. Solche Freunde hab ich! In drei Wochen!“
Es kam mit einer Wut und Lautstärke, dass man voraussah, auch in weiteren drei Wochen würde er etwa so lebendig sein wie sie.

„Na, das Schmuddelwetter die letzte Zeit immer“, schlug Frank vor. „Jetzt kommt aber das Wochenende. Wart das mal ab!“
„Die Herren sind beschäftigt, die können nicht anrufen, nicht mal übers Handy, nee, die haben Wichtigeres.“

Wie ein richtiger Aids-Kranker sah Adam nicht aus. Er sah krank aus, aber nicht kritisch. Das Auffallendste war das Infusionsgestell, von dem ein Schlauch abfiel zum linken Handgelenk, bis er unter dem Ärmel einer blauen Trainingsjacke verschwand. Man konnte noch sehen, dass das Gelenk bandagiert war. Grausig sah der Batzen unter Adams rechtem Mundwinkel aus. Irgendeine Art Wundschorf, es wirkte wie eingetrocknetes Blut, schwärzlich, dick. Adam, der dünn gewesen war, war noch ein wenig dünner geworden, allerdings kein Skelett. Seine Haut kam einem weich, trocken und fahl vor. Sein Haar war verstrubbelt und es schien an mehreren Stellen ausgefallen zu sein. Die Knochen an der Stirn wirkten scharf und eckig. Ausdruckslos sah er weiter zum Bildschirm hoch. Frank und Edgar schien er wieder vergessen zu haben.

„Wie geht’s dir?“, fragte Frank.
„Beschissen.“
„Hast du Schmerzen?“
„Keine Schmerzen. Dafür gibt’s Mittel.“
„Das ist gut. Die Operation hast du gut überstanden. Du siehst auch gut aus. Nicht, Edgar, er sieht gut aus?“
„So. Ich sehe gut aus. So“, brummte Adam und schaute fern.

Dabei wollen wir nur nett sein, dachte Edgar. Wenn ich das alleine machen müsste, würd ich aufstehen und gehen. Oder braucht der uns etwa?

„Beschissen“, murmelte Adam noch einmal.
„Hä? Was hast du gesagt?“, fragte Frank.
„Beschissen. Beschissen hab ich gesagt. Mir geht’s beschissen. Mir geht’s immer beschissen. Jeden Tag geht’s mir beschissen. Das Fieber kriegen sie nicht runter. Ein Gefühl im Bauch. Dann wieder die beschissene Nadel in mich rein.“

„So eine OP, das ist ein schwerer Eingriff. Das braucht Zeit, bis der Körper es verarbeitet. Aber das wird wieder. Wirklich, Adi, du siehst frisch aus. Hätt ich nicht gedacht. Du bist einer mit Steherqualitäten. Stimmt doch, Edgar, er sieht wirklich gut aus?“
„Mhmm“, machte Edgar. „Wohl ein bissel müde. Aber die Lebensgeister sind unverkennbar, das erkennt man.“
„Und das Essen ist beschissen. Jeden Tag ein saubeschissener Fraß.“

Er hob den Plastikdeckel vom Teller. Da waren zwei eingeschweißte Scheiben Roggenbrot, zwei Packungen Frischkäse, unterschiedliche Geschmacksrichtungen,

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