Vollendet?

Bild von Brigitta Wullenweber
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Fragte man sie, ob sie ihr Leben noch einmal genauso leben wollte wie es geschah, würde sie nicken, den Mund um die Dritten pressen, die ihr schon lange die nach und nach gezogenen Zähne ersetzen, dazu die Finger heftig ineinander drehen und die Zehenspitzen in den Boden drücken. Gerade so wie sie es immer tut, wenn sie die Wahrheit verbergen möchte, doch ihr Körper nichts davon wissen will.
Bisher hat ihr allerdings niemand weder eine solche Frage gestellt noch irgendwelche Details aus ihrem Leben wissen wollen. Mag sein, dass der Bürgermeister fragen wird, wenn er den Strauß Blumen zum 100. bringt. Vielleicht wird er nicht nur Kuchen essen, Kaffee trinken und schnell wieder verschwinden wie bei der Nachbarin im letzten Jahr. Es könnte immerhin sein, dass es ihn interessiert. Denkt sie, wider alle Erfahrung.
Vorsichtshalber wird sie sich um freundliche Antworten kümmern müssen. Sie will ihn ja nicht enttäuschen. Den Bürgermeister. Wenn er sich schon die Mühe macht.
Zum Grübeln bis zu diesem Tag hat sie noch knapp drei Jahre Zeit. Die schafft sie auch noch. Glaubt sie. Denn sie ist zäh. Zäh wie Kruppstahl hätte Paul gesagt. Damals als er noch lebte. Paul war ihr Mann. Beinahe der Einzige. Er war in beiden Kriegen. Die hat er überlebt. Das, was man dann Frieden nannte, hat er kaum bemerkt. Zu sehr tobte das Erlebte in ihm. Auch wenn er nie darüber sprach, verstand sie ihn. Auch heute noch.
Nur der Strick hätte nicht sein müssen. Hätte er die Brücke genutzt, wäre den Kindern dieser Anblick erspart worden. Aber das konnte er wohl nicht bedenken im Nebel der nicht sterben wollenden Bilder in seinem Kopf. Sie versteht das. Er war eben nicht aus dem gleichen Holz wie sie, die in den Bombennächten die Kinder, Eltern und Schwiegereltern über Berge von Schutt und Toten dirigierte. Und all das erst einmal vergaß. Vergessen musste ob der Aufgaben, die ihr gestellt waren.
Dass der Hunger dieser Zeit sich für sie und die Ihrigen, dank ihres persönlichen körperlichen Einsatzes, in aushaltbaren Grenzen hielt und der Jüngste mit schwarzer Hautfarbe zur Welt kam, hat er ihr weder vorgeworfen noch verziehen. Er hatte andere Probleme und brauchte alle verbliebene Kraft für sein gestern, das ihm kein morgen erlaubte.
Sie selbst hätte sich wohl wieder an ihn gewöhnt. Da ist sie sich sicher. Den anderen Frauen ist das ja auch gelungen. Und nicht nur das.
Seit dem Sturz damals, lebt sie bei einem der Enkel und dessen Familie. Im Souterrain. Früher hätte man das Keller genannt. Doch heute gibt es neue Wörter. Dieses eine haben die Franzosen mitgebracht. Damals. So wie Trottoir. Aber das kennt heute niemand mehr.
Seit ein paar Jahren bringen sie ihr das Essen in ihre Kellerstube. Es ist immer genug. Das ist gut. Obwohl sie dafür nur ihre winzige Rente bekommen, geben sie ihr genug. Ein Dach über dem Kopf und Essen. Immer genug. Und immer isst sie alles auf. Auch das was ihr nicht schmeckt.
Gemeinsame Mahlzeiten gibt es auch oben nicht mehr. Zu unregelmäßig sind die Arbeitszeiten. Die Schule endet ebenfalls nicht mehr einheitlich.
Doch dem trauert sie nicht nach. Dem nicht. Beim Essen hat es ja häufig Streit gegeben. Laut und aggressiv war es. Oft. Lauter als es ihre Ohren vertrugen und aggressiver als es ihrem Herzen guttat. Oder liegt das doch am Cholesterin und dem Blutdruck, wie der Oberarzt, der ihr die Bypässe gelegt hat, damals vermutete?
Streit und Türenknallen hört sie jetzt nur noch von Ferne. Das Haus ist kaum hellhörig und sie selbst ist es sowieso nicht mehr. Manchmal setzt sich jemand am Abend einen Moment zu ihr. Dann richtet sie sich auf, spitzt die Ohren und konzentriert sich auf fast jeden Buchstaben aus dessen Mund.
Ein paar Worte über die Welt da draußen machen ihr Millionen neue Gedanken, die dann tagelang mit den altbekannten in ihrem Kopf Tango tanzen und ihr so die Zeit vertreiben, die sich von Tag zu Tag weiter und weiter dehnt. Mal umschließt sie nur „eben und jetzt“ oder „gestern und heute“. Oft enthält das „jetzt“ aber auch manchen Tag des vorigen Jahrhunderts. Manchmal kann sie beides nicht voneinander unterscheiden. Schon seit Jahren nicht mehr. Oder Tagen.
Lange schon hat sie keine Aufgabe mehr. Man traut ihr nichts mehr zu. Vielleicht zu Recht. Sie weiß es nicht. Hauptsache es gibt keinen Streit mehr. Jedenfalls nicht mit ihr. Nie wieder Krieg, hätte Paul gesagt. Auch nicht im Haus, hätte sie hinzugefügt.
Einer ihrer Urenkel heißt auch Paul, so wie sein Vater, dessen Vater und wiederum dessen Vater. Ihrem Paul. Eine der wenigen Traditionen, die sich gehalten haben. Sonst ist ja beinahe alles neu. Heute muss ja immer alles neu sein. Kaum noch etwas bleibt wie es war, wird erhalten oder gar repariert.
Sie selbst ist alt. Sehr alt mittlerweile. Mag sein, dass der Tod sie vergessen hat. Mag sein, dass sie den Tod doch noch fürchtet. Mag sein, dass sie leben will. Trotz allem.
Als Paul IV, wie sie den, ihr allerliebsten, Urenkel vor sich selbst nennt, aus Afghanistan zurückkehrt, erkennt sie ihn kaum wieder. Traumatisiert sei er, heißt es. Doch es sei gut, dass er lebendig zurück sei, sagen sie. Drei seiner Kumpels wurden im Sarg zurück gebracht. Sie werden gefeiert. Als Opfer. Opfer innerhalb einer Sache, die nach langem Ringen nun doch auch offiziell Krieg genannt wird.
Paul bekommt, wenn er will, therapeutische Hilfe. So wie alle anderen scheinbar lebendig Heimgekehrten heutzutage. Also alles kein Problem. Sagen sie. Nicht wie damals als alle ohne Hilfe da standen.
Sie selbst erträgt seinen Anblick nur mit Mühe. Einer vertrauten Mühe. Einer Mühe, die sie zwingt, kurz die Augen zu schließen. Sie erlebt einen langen Moment in dem sich die Bilder beider, gleichzeitig abgemagerter und aufgedunsener, Männerkörper übereinander legen. Niemals wird sie diese leeren Blicke vergessen. Niemals mehr wird sie diesen Blick vergessen. Auch mit wieder geöffneten Augen nicht.
Paul IV will Hilfe und begibt sich in die Obhut eines bundeswehreigenen Therapeuten. Einem jungen Mann mit guter Ausbildung, der in seinem Leben selbst noch niemals einen Toten gesehen hat und auch sonst in sehr behüteten Verhältnissen lebt.
Mit verschiedenen Methoden bemüht er sich, Paul zum Sprechen zu bewegen. Doch Paul spricht nicht. Nicht mehr über seine, auch monetären, Beweggründe für dieses Abenteuer. Und auch nicht über das Erlebte selbst. Nicht nur, weil er den jungen Mann verschonen will. Ihm fehlen schlicht die Worte. Und der Mut.
Natürlich fehlt Opfern der Mut von Tätern, denkt es im Takt eines sehr langsamen Walzers im Inneren des Hirns der alten Frau, als man ihr bei einem bis dato seltenen Festessen in den oberen Räumlichkeiten vom therapeutischen Misserfolg berichtet.
Paul selbst sitzt nun oft stundenlang bei ihr im Keller. Arbeitsunfähig auf unbestimmte Zeit. Psychopharmaka, Alkohol und Ähnliches lassen sich leicht besorgen. Der Bund zahlt reichlich.
Eines Tages hätte er beinahe sein Schweigen gebrochen. Eines Moments will er mit ihr, seiner Urgroßmutter ein wenig vom entstandenen Leid und der damit verbundenen Aussichtslosigkeit teilen. Beinahe wäre er über den Wall aus Angst und Panik geklettert, der nun schon so lange massiv und stabil sein Inneres beschützt. Beinahe. Im letzten Augenblick entdeckt er das Stoppschild in ihren Augen. Ein Schild am Tor. Am Tor zu ihrer Seele, wie man sagt. Eine Warnung, die sie selbst wohl kennt, aber nur bei anderen vermutete. Massiv. Stabil. Unmöglich zu Überwinden. Nicht nur weil ihm die Kraft dafür fehlt.
Als sie die kleine Meldung über den „Freitod“ eines jungen Mannes unter „Vermischtes“ liest, hört ihr Herz auf, zu schlagen. Einfach so, sagen sie.
Paul, der IV., hat sich von der Brücke in den Fluss fallen lassen.
Ende.
Ende?

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