LeichenTeile

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LeichenTeile
 
Anner Griem
 
Die Pause zwischen Vor- und Nachmittag verbringt Lollmann, ist er gleichzeitig mit Hörmeir im Büro, regelmäßig mit diesem in einer der Kneipen in der unmittelbaren Gegend. In der Regel sprechen sie wenig miteinander, beiden dient diese Zeitspanne als Rekonvaleszenz für Körper und Kopf.
Auf dem Weg zu einer ihrer regelmäßig angepeilten Stammzellen, wie sie die kleinen Kneipen in ihrem Revier bezeichnen, sehen sie auf einer der längst dahinziehenden Straßen des Viertels einen Leichenzug, der sich gemessenen Tempos und Schrittes ihrem Standpunkt nähert. Hörmeir will noch schnell die Straßenseite wechseln, Lollmann hindert Hörmeir mit einem festen Griff an dessen rechten Oberarm daran.
 
Mich wundert, sagt Lollmann zu Hörmeir, während der Leichenzug langsam an ihnen vorüberzieht, mich wundert, dass Leichen immer noch verwesen anstatt zu mumifizieren. Oder, setzt er fort, warum es zu keiner Verpuffung kommt, lassen sie sich verbrennen.
Wie er denn darauf käme?, fragt Hörmeir nach.
Na Mann, bei der Chemie, die wir seit Jahren täglich zu uns nehmen, meint Lollmann lakonisch.
Joghurt, du musst jeden Tag drei Esslöffel Joghurt zu dir nehmen, dabei macht Hörmeir heftige Schluckgeräusche.
Lollmann dreht sich wieder dem Leichenzug zu, der fast an ihnen vorbei gezogen ist, kramt eine Zigarettenpackung aus seiner linken Manteltasche, schaut Hörmeir ins Gesicht, während er sich eine Zigarette anzündet.
Gehen wir ein Bier trinken? Hörmeir ist nach Bier.
Klar doch! Lollmann schreitet zügig voran.
 
Alleine für das Entkleiden der Leiche müsste schon das Bundesseuchengesetz zutreffen, setzt Lollmann, nachdem er etwas von seinem Bier abgetrunken hat, seine Rede fort.
Hörmeir ist weniger nach Leichen als nach kühlem Bier. Jetzt lass doch mal deinen Leichenscheiss, meint er über sein Pils hinweg zu Lollmann.
Woher soll ein Arzt wissen, was die Leiche in ihrer Lebensphase alles in sich hineingestopft hat? Lollmann will von seinem Thema nicht lassen, obwohl Hörmeir, um Lollmann von dessen Totenstimmung abzulenken, für jeden zwei Frikadellen mit Senf bestellt hat.
Pfui Teufel, Lollmann spuckt das abgebissene Frikadellenstück gezielt in sein Bierglas, das schmeckt ja wie eine abgehangene Leiche.
Du musst sie vorher in den Senf tunken, erwidert Hörmeir zwischen den Kaubewegungen seines Unterkiefers.
Bei Wasserleichen zum Beispiel, nimmt Lollmann sein Thema wieder auf, besteht die Gefahr einer örtlich begrenzten Fischvergiftung. Wären die Flüsse nicht immer noch so verdreckt, müsste man Leichen im Wasser verbieten.
Sag mal, Hörmeir ist sichtbar genervt, hast du heute zum Frühstück deinen vorgestrigen Schmorbraten vertilgt? Und – wie kommst du jetzt auf Fischvergiftung?, fragt er Lollmann, währenddessen er sich Lollmanns zweite Bulette auf seinen Teller legt.
 
Quatsch, nicht Fischvergiftung, vergiftete Fische, wirft Lollmann zwischen die hingebungsvollen Mahlgeräusche Hörmeirs, die Fische vergiften sich an den mit Chemie und Pharmaka beladenen Leichen.
Hörmeir schluckt den letzten Bissen der von Lollmanns Teller genommenen Frikadelle herunter, spült mit einem Schluck Pils nach. Du übertreibst, er wischt sich mit dem rechten Handrücken über den Mund, so vollgepumpt kann keine Leiche sein, da müsste es sie schon zu ihren Lebzeiten zerrissen haben.
Vielleicht ist das bei den meisten von ihnen der Fall, es wird nur darüber geschwiegen, Lollmann stützt jetzt seinen Kopf ab, indem er seine linke Handinnenseite mittig unter sein Kinn schiebt, Chemie und Pharma haben eine starke Lobby. Sein Blick wandert gedankenverloren über den Tisch, bleibt an Hörmeirs mit Senfresten und Frikadellenkrümeln verschmierten Teller hängen. Er greift nach seinem Bier, welches mit Schwebeteilchen des ausgespuckten Frikadellenstückes durchsetzt und mittlerweile Kotze ähnlicher als einem Bier ist.
Bekommst ein neues, schon bestellt, wirft Hörmeir schnell zwischen Lollmanns Gedanken.
Lollmann nimmt das Glas dennoch in seine rechte Hand, hält es leicht geneigt gegen das Deckenlicht. Ekelhaft, angewidert schüttelt er leicht das Glas, sieht aus, als läge das Zeugs schon drei Wochen in dieser Brühe.
Nun, das Fleisch, sofern welches in diesen Frikadellen vorhanden ist, ist bereits seit einigen Tagen oder gar einigen Wochen tot und total ausgeblutet, wirft Hörmeir ein, kein Wunder also.
Wasserleichen sind ohnehin, spinnt Lollmann seine Gedanken weiter, aufgrund der schneller fortscheitenden Verwesung schwer identifizierbar. Postmortale Veränderungen an diesen Leichen machen eine Identifizierung fast unmöglich.
Moment, Lollmann, wirft Hörmeir ein und setzt mit einem Klack sein Pilsglas auf den Tisch, im Labor durchaus. Gedankenverloren wischt er sich Bierspritzer von seinem rechten Handrücken und fährt sich anschließend mit derselben, indem er seine Finger spreizt, durchs Haar.
Ja, ja, Lollmann wird leicht ungehalten, sein linker Zeigefinger stößt senkrecht zur Kneipendecke vor, im Labor, nicht jedoch Vorort.
Hörmeir verdreht die Augen zur Decke hin, seine Geduld mit Lollmanns leichen-schwankerem Gerede geht allmählich dem Ende zu. Er schaut kurz auf seine Armbanduhr, um festzustellen, wie lange ihre Pause noch andauert.
Gehen wir noch etwas Vernünftiges essen?, Lollmann fällt so brachial mit seiner plötzlich sehr lauten Stimme in Hörmeirs Gedanken, dass dieser leicht zusammenzuckt.
Wohin denn?, stellt Hörmeir eine Gegenfrage und legt dabei beide Hände wie ein artiger Internatszögling auf die Tischplatte.
Lollmann erhebt sich schwerfällig, zupft an seinem Mantel, den er die ganze Zeit anbehalten hat, kramt ein Taschentuch hervor und wischt sich damit erst über die Stirn und dann über den Mund. Er seufzt, kratzt sich am Hinterkopf, wurschtelt das Taschentuch umständlich zurück in die rechte Manteltasche, schiebt seinen Stuhl nach hinten.
Zur Schreiber in die Kleinmarkthalle, sagt es und dreht ab und geht festen Schrittes auf die Kneipentür zu.
Eh, Moment, wir müssen noch zahlen!, ruft Hörmeir hinter ihm her.
Du zahlst!, Lollmann dreht leicht den Kopf in Hörmeirs Richtung, während er ihm sein ‚Du zahlst!‘ zuruft, greift zur Türklinge und öffnet die Tür um sogleich hinauszutreten.
Zahlen!, Hörmeir schreit mehr als er ruft, zieht einen Zehnerschein aus der Jackettinnentasche hervor und klemmt ihn unter sein Pilsglas. Eilenden Schrittes läuft er hinter Lollmann her.
 
-Auszug-