Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

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86. Schritt

„Ich empfinde die Welt wie sie ist“ sagt der Blinde, ohne Unrecht zu haben.

„Ich empfinde die Welt wie sie ist“, meint der Taube, ohne Unrecht zu haben.

Der Lahme, der Irre, der Moralist, der Sünder, der Theoretiker und der Praktiker, der Künstler und der Philosoph schließen sich an.

Nicht anders ist es bei allem was kreucht und fleucht, was sich ziert, was ausschweift, was fantasiert, was büffelt, was träumt, was trotzt – was lebt! Und alle befinden sich im Recht!

Warum das so ist, das könnte für jeden zum Rätsel werden, würde er sich nur die Mühe des Verstehens im Unverständlichen machen. Denn die Welt ist vielgestaltig. Ihre Formen und Entgleisungen, die Sinne wie auch den Geist.

Was kann z.B. der arme Färberfrosch dafür, daß er so schön ist?! (und giftig ist er auch zugleich). Der lachende Hans ist extrem laut, er macht den Eselpinguinen Konkurrenz. Daraus lernen wir, daß die Natur ihren ganz speziellen Humor hat.

Ob es auch zum speziellen Humor der Natur gehört, einen Trieb-Mörder heranwachsen und seine Taten begehen zu lassen, steht auf einem anderen Blatt, aber es steht und zwar relativ fest – ebenso wie diese, seine ganz spezielle Meinung, tun zu müssen was er tun will.

Ein Läufer läuft, ein Heber hebt, ein Denker denkt, ein manisch Depressiver ist manisch depressiv! Ebenso, wie ein Kamel ein Kamel und keine Kuh ist, oder eine Biene keine Assel. Jeder ist, von seiner Sicht aus im Recht und das hohe Gericht „Natur“ entscheidet wer von allen den günstigsten Weg eingeschlagen hat und zwar ohne Mörder oder Opfer vorher nach ihrem persönlichen Einverständnis gefragt zu haben.

Wenn uns eines Tages, etwa die Mörder, samt und sonders ins Jenseits befördert haben, dann wird die geplante Untat zum guten Ton einer neuen Gesellschaft gehören. Wenn, was auch immer für eine Veranlagung dominiert, dann wird diese Was-auch-immer-Veranlagung die vorrangigste Art sich auszudrücken sein, das ist amtlich.

Keine Schule, kein Lernprogramm und kein Medikament werden uns davor beschützen zu sein wie wir sind. Es gibt keine Anti-Hoppel-Pillen für Hasen, damit sie keine Haken mehr schlagen wollen und auch keine Salbe für Schwerathleten, die ihnen dazu verhilft siegreich einen Marathon zu laufen. Unterstützen und ein bisschen hemmen, das kann eventuell gehen, aber verhindern, daß ein Kamel ein Kamel ist, das geht leider nicht. Doch die menschliche Zivilisation ist nicht schwindelfrei!

Sie bringt, wenn es sein muss, ab einem gewissen Bildungsstand, alles gehörig durcheinander! Sie macht Bauern zu Mathematikern, weil diese lange genug studiert haben, um alle Scheine erwerben zu können und umgekehrt disqualifiziert sie Unbequeme zu Durchgefallenen.

Sie inthronisiert Dumpfbacken in Politiker-Rollen, macht Leute mit auffallend gestörter Feinmotorik zu berühmten Künstlern und lotst normal Denkende und Fühlende Menschen solange im Kreis herum, bis sie nicht mehr zweifelsfrei zwischen Hü und Hott unterscheiden können. Das ist prinzipiell richtig gedacht – solange es keine schlimmen Folgen zeigt.

Leider ist die Freie Wildbahn – die nur der Trottel gänzlich ignoriert – keine geeignete Bühne für derart vertrackte Experimente. Die Schöpfung akzeptiert keine Dogmen! Sie geht über alles, das sich nicht anpassen (merke: Anpassung und sich anpassen ist nicht das gleiche) kann leichtfüßig hinweg, wobei sie auch leichten Herzens endgültige Todesurteile verhängen kann.

Die Vernunft improvisiert deshalb natürliche Auslesen, sie sublimiert Kriege zum Sport, sie macht aus Vergewaltigungen niedliche Spielchen, die keiner mehr ernst zu nehmen braucht: sie ist gentlemanlike und diplomatisch in allen Bereichen: bevor sie handelt sucht sie nach Alternativen. Doch eines ist sie niemals: selbstzerstörerisch!

Wenn ihr (ihren Besitzern) auffällt, daß eine bestimmte Verhaltensweise absolut fatal Untergänge anstrebt, dann schreitet sie ein und belehrt so gut wie möglich. Wer jetzt aber sagt „Vernunft ist leicht vorzutäuschen, jeder könne behaupten in ihrem Besitz zu sein“, der ziehe sein Gewissen hinzu und prüfe noch einmal was er da gesagt hat!

Nach akribischen Selbstkontrollen dürfen nämlich jederzeit Sachverhalte untersucht werden, die entweder auf unabsichtliche Leichtsinnsfehler oder vorsätzliche Bosheiten hinweisen, auf Vermögen und Unvermögen, auf ein alleinstehendes, großes Maul oder eine fundierte Begabung. Das geht aber nur, sobald der Neid außen vor bleibt. Denn der ist auf jeden Fall eine Krankheit die uns das Genick brechen kann. Wie alle anderen schädlichen Auswüchse braucht er entweder die hilfreiche Therapie, oder eine strenge Hand, die ihn human einzugrenzen versteht.

Dann werden die Talente auch ihre Bestimmungen finden: Giraffen behalten die Übersicht, Elefanten haben Porzellanladenverbot, Bären bleiben in der Höhle und Manager auch mal bei der Theorie wenn ihnen schmutzige Geschäfte in der Praxis vorschweben. Dafür könnte man ja auch ein geeignetes Spiel erfinden – wenn es ein solches nicht schon gibt…

Jeder ist berechtigt seine Spiele zu spielen, die Tiere im Ernst, die Menschen zum Spaß, nur eines darf dabei niemals außer Acht gelassen werden: der mit dem größten Überblick übernimmt die Verantwortung, daß keiner dabei schwer zu Schaden kommt, oder ihm gar die Ausrottung droht! Einsicht in alle Dinge muss das höchste Ziel sein!

Als die ganzen großen Worte verhallen, steige ich, noch von meiner verträumten Rede an einige Millionen imaginärer Zuhörer benommen vom Tisch. Durch die Anstrengung, sowie die stundenlange Liebesabstinenz bin ich stark unterzuckert. Ich lechze nach etwas Ess- oder Liebbarem. Vor allem quält mich mein trockener Mund. Umgeben bin ich von Trilliarden verschiedener Welten, die alle auf ihre Existenzberechtigung pochen.

Als ich bemerke, daß ich inzwischen tatsächlich in einem rasenden Mob gefangen bin, bekomme Angst. Da stehen plötzlich tausende, gefühlte unendlich viele Gestalten, mit verbalen Keulen oder materiellen Knüppeln bewaffnet, mit Tomaten und Eiern bestückt, jubelnd, mit gespitztem Mund, feuchten Höschen, Zorn oder Zuneigung in den Augen, mit nickenden oder geschüttelten Köpfen vor mir, und alle haben sie nur eines im Sinn: sie wollen mir unmissverständlich, notfalls auch missverständlich beweisen wofür sie geschaffen wurden – zur Auslebung ihrer ganz speziellen Form von lebendigem Wahnsinn!

©Alf Glocker

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