Keine Weihnachtsgeschichte - Page 2

Bild von Dieter J Baumgart
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Handgeld aus Fünfzigern und Hundertern, deren Serien-Nummern notiert sind.
     Der Leiter der Zweigstelle steht im Eingang zu seinem Büro: „Bitte“, sagt er tonlos, „bitte kommen Sie herein – hier entlang...“, leitet er die Frau mit dem Kind, vorbei am Prospektständer und außer Sichtweite des Kassenschalters in sein Zimmer. Vor dem Kassenschalter liegt der als Weihnachtsmann verkleidete Täter.

     Seit diesem Tag ist Werner Faust ein anderer Mensch. Allerdings – weiß er es noch nicht. Er ist sich keiner Schuld bewußt, niemand beschuldigt ihn.
     „Sie hätten ihm das Geld gegeben?!“ Das ist eher eine beiläufige Feststellung denn eine Frage seitens des Personaldirektors.
     „Ja, natürlich“, sagt Werner Faust, ohne zu zögern.
„Das ist – das wäre auch völlig in Ordnung gewesen. In solchen Situationen brauchen wir keine Helden. Ich habe den Zettel gesehen. – Ich meine die Anweisungen für die Geldübergabe. – Sie hatten natürlich keine Wahl, was das Handgeld betrifft.“ Er betrachtet sein Gegenüber mit erhöhter Aufmerksamkeit. „Die leichte Verzögerung bei der Überfallmeldung kam ja schon anläßlich Ihrer Vernehmung zur Sprache. Wir schließen uns da natürlich der Ansicht der Kripo an, daß das unter den Tatumständen zu entschuldigen ist. Ich wollte Ihnen das noch einmal ausdrücklich sagen...“
Und nach einer kurzen Pause: „Die Video-Kassette ist bei den Ermittlungsbehörden. – Wenn Sie die Aufnahme sehen wollen?“
     „Nein –, das möchte ich nicht.“ Fast hätte er gesagt: „Das ist nicht nötig“.
     Werner Faust hat wenige Bruchteile einer Sekunde wie in Zeitlupe registriert: Der Schuß. Das Projektil dringt in die Larve aus Pappmaché ein. Während der Personalchef in den vor ihm liegenden Papieren blättert, kreisen die Gedanken des Kassierers um den Toten: ‘Das war kein Profi –. Ein ganz armes Schwein; der hätte das Kind nicht umgebracht, der nicht –. Fünfundvierzigtausend für ein Menschenleben. – Der Handel hat nicht geklappt – aus – Schluß! Natürlich hätte ich ihm das Geld gegeben; ich hätte ihm sogar...’
     „Ja, vielen Dank, Frau Haase –”, schneidet die Stimme seines Gegenübers in die entstandene Stille. „So, Herr Faust, hier ist das Protokoll für die Berufsgenossenschaft und für unsere Versicherung. Wenn Sie das eben noch einmal durchlesen wollen –. Es ist ja eine reine Formsache. Ich meine, der Fall ist wohl abgeschlossen. – Gott sei Dank ist ja niemand weiter zu Schaden gekommen.“
     ‘Und das Geld ist auch noch da!’ vollendet Werner Faust in Gedanken. ‘Fast hätte ich es ‘rausgeworfen – wenn der Mann sich nicht vorher umgebracht hätte!’ Er überfliegt das Protokoll. Zeugenaussagen von Weihnachtsmarktbesuchern belegten, daß der Täter das Mädchen, das offenbar tatsächlich seine Mutter suchte, an die Hand nahm und über die Straße zur Bank ging. Er liest: „... wurde die Eingangstür aufgestoßen und eine Frau rief „Jutta?“
     „Jutta –!!“ dröhnt es in seinem Kopf.
     Zurückversetzt in den Moment des Geschehens, spürt er die panische Angst in diesem einen Wort, sieht das verstörte Gesicht des Mädchens, das unter der blauen Kapuze noch viel kleiner, verlassener wirkt. Werner Faust unterschreibt das Protokoll. Abgeschlossen? Bestimmt nicht für das Kind und seine Mutter. ‘Und für mich auch nicht ...’ Werner Faust reicht die Papiere wortlos über den Schreibtisch.
     „Vielen Dank, Herr Faust. Und –, wenn Sie Fragen haben oder – falls Ihnen zum Tathergang noch etwas in Erinnerung geblieben sein sollte –, Sie wissen, es sind manchmal Kleinigkeiten, die am Ende von Wichtigkeit sind. – Nun, wie auch immer: Sie wissen, ich bin jederzeit für Sie da.“
     „Vielen Dank, Herr Direktor!“ Etwas ist da noch –. Es ist eher ein unbestimmtes Gefühl, etwas, das sich nicht in Worte fassen läßt. Und schon gar nicht in eine Frage. Dann ist Werner Faust auch schon im Vorzimmer.
     „Ach Herr Faust, bitte, die Jahresvorschau. Nehmen Sie sie auch für die anderen mit? Das Betriebsfest ist nächstes Jahr am zwölften August –, im ‘Roten Hirsch’.“ Frau Haase lächelt ihn an. Dann, wie um Entschuldigung bittend: „Was da passiert ist –, ich meine, der Überfall, ich meine, Sie haben absolut richtig gehandelt. Sie dürfen sich das nicht so zu Herzen nehmen. Es ist ...“
     „Danke, Frau Haase, es ist – Berufsrisiko.“

     Mehr wird Werner Faust zu diesem Thema nicht sagen. Nicht zu seiner Frau, nicht zu seinen Kollegen, Freunden oder Bekannten. Es ist, es scheint abgeschlossen, nachdem er im neuen Jahr nach einem vierwöchigen Erholungsurlaub in die Filiale zurückkehrt.
     Das Angebot seitens der Geschäftsleitung, in die Wertpapierabteilung und damit in die Zentrale zu wechseln, hatte er mit der Begründung abgelehnt, daß ihn der Kontakt mit dem Publikum doch mehr reize, zumal ihm ein großer Teil des Kundenkreises persönlich bekannt sei, was schließlich auch dem Unternehmen zugute komme. Aber es gab noch einen Grund. Nichts Konkretes, eher ein Gefühl, das er jedoch nicht näher definieren konnte – oder wollte. Wie auch immer – das Thema ist für Werner Faust erledigt.
     Bis zu dem Tag im Oktober, an dem in den Auslagen der Geschäfte und Warenhäuser die ersten Weihnachtsdekorationen sichtbar werden. Für Werner Faust ist es wie ein Schock: Nichts ist abgeschlossen! Rot-weiße Farbkombinationen verunsichern, ja erschrecken ihn geradezu ...
     Langsam und lautlos dringt das Projektil in die starre Maske aus Pappmaché ein; links oberhalb der Augenöffnung, die schwarz ist und immer größer wird, bis alles um ihn herum schwarz ist.
     „Kann ich Ihnen helfen?“ hört er neben sich und doch ganz von fern eine Stimme. „Ist Ihnen nicht gut?“
     Er befindet sich in der Möbelabteilung eines Kaufhauses, sitzt in einem wuchtigen Ledersessel.
     „Danke“, stammelt er, noch ganz benommen, „danke, es – es geht schon wieder. Es wird der Föhn sein.“
     „Bleiben Sie nur sitzen, lassen Sie sich Zeit, bitte“, sagt der Verkäufer, „und wenn Sie einen Wunsch haben, mein Kollege, da vorn, ist für diesen Bereich zuständig.“
     „Vielen Dank, das ist sehr freundlich, ich ...“
     ‘Wie bin ich hierhergekommen’, versucht er, sich in die Situation zu finden, ‘was wollte ich denn –? Wo bin ich überhaupt?’ Langsam nimmt er seine Umgebung wieder wahr. Durch die Fenster zur Straße dringt helles Tageslicht,

Veröffentlicht / Quelle: 
Flugenten - 19 unordentliche Geschichten (Buch)

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