Keine Weihnachtsgeschichte - Page 3

Bild von Dieter J Baumgart
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mischt sich mit dem warmen Schein der Glühlampen aus der benachbarten Elektroabteilung. Draußen eilen Menschen mit Regenschirmen vorbei. Ein feiner Nieselregen taucht die Szene in milden Nebel und läßt das Kopfsteinpflaster grausilbrig reflektieren. Sein Blick fällt auf phantasievoll gestaltete Kinderzimmermöbel aus hellem Naturholz. Ihm gegenüber, auf einer kleinen Bank, liegt ein Sitzkissen mit appliziertem Weihnachtsmann. Werner Faust schließt die Augen. ‘Verdammt, das geht so nicht weiter! Ich muß das in den Griff bekommen.’ Er schaut auf die Uhr: dreizehn Uhr fünfundzwanzig. Und jetzt fällt ihm auch ein, was er wollte. Es ist Mittagspause. Gestern Abend hatte er mit Inge gescherzt:
     „Also im nächsten Jahr ist vielleicht doch eine neue Couch-Garnitur fällig. Wir müssen ja nicht warten, bis uns die Sprungfedern entgegen springen – oder?“
     „Eben! Das könnte gefährlich werden. Dafür haben deine Eltern sicher auch Verständnis. Und als Leiter der Filiale hast du vielleicht auch mal Geschäftsbesuch, da würde das doch irgendwie stören, könnte ich mir denken. – Der arme Mann, er sollte sich vielleicht mal selbst einen Einrichtungskredit genehmigen  –. Armer Werner! Nein, soweit soll es nicht kommen!“
     Sie hatten beide gelacht. Aber am Ende war da in seiner Heiterkeit irgendwie ein hohler Klang. Eine nicht näher definierbare Unsicherheit, eher ein vages Gefühl hatte sich eingeschlichen und ließ die Zukunftsvision in einem eigentümlich fahlen Licht erscheinen. Er hatte das wohl wieder verdrängt und beschlossen, schon mal nach passenden Möbeln Ausschau zu halten, damit sie am Sonnabend gemeinsam durch die Läden streifen könnten.
     Natürlich, es ist noch ein Jahr hin, bis zur ‘Amtsübernahme’, wie er den Meilenstein auf seinem beruflichen Werdegang in Gedanken nennt. Aber Werner Faust hat die Dinge gern im Griff. ‘Gute Planung ist die beste Entscheidungsgrundlage’. Dieser Einstellung verdankt er schließlich seinen beruflichen Erfolg. Bis zu jenem Donnerstag im vergangenen Dezember.
‘Ich muß davon weg’, beschließt er und richtet den Blick starr auf das Kissen mit dem Weihnachtsmann. Eine Viertelstunde vor Ende der Mittagspause ist er wieder an seinem Arbeitsplatz.
     „Ach, Herr Faust“, empfängt ihn der Zweigstellenleiter, „haben Sie einen Moment Zeit? Kommen Sie doch mal eben in mein Büro.“
     Er öffnet die Tür: “Bitte, nehmen Sie doch Platz“, sagt er und schließt die Tür, was sonst nicht seine Art ist, wie Werner Faust sogleich registriert. Das gleiche Gefühl, das ihm vom gestrigen Abend zu Hause noch bekannt ist, beschleicht ihn nachhaltig.
     „Herr Faust, ich möchte, daß Sie es als erster wissen –”,  der Filialleiter räuspert sich, das Unangenehme der Situation drückt sich in seinen Bewegungen aus. „Äh, wir – ich bin gebeten worden, die Leitung der Geschäftsstelle bis zum Fünfundsechzigsten zu übernehmen. Es gibt Gründe, die mich veranlaßt haben, zuzustimmen. Ich weiß, es – es ist ein Schock für Sie. Aber –, nun, ich kann Sie nur bitten, Verständnis zu haben. – Glauben Sie mir, es ist mir nicht leichtgefallen...“
     Die letzten Worte nimmt Werner Faust nicht mehr auf. Das war es also –. Das war es von Anfang an! Die Ungeheuerlichkeit dieser Erkenntnis verschlägt ihm förmlich den Atem. ‘...ich habe den Zettel gesehen. Sie hatten natürlich keine Wahl – ich meine das Handgeld –’, kommen ihm die Worte des Personalchefs blitzartig ins Bewußtsein.
’Fünfundvierzigtausend, das war der Kassenbestand in Noten... ’Seine Gedanken überschlagen sich, verhaken sich in diese Zahl, die ihn zu überrollen scheint. Einen Tag vor dem Überfall war der Bargeldbestand an der Kasse auf Weisung der Zentrale bis zur versicherten Höchstsumme angehoben worden.
     „Aber das ist ja hirnrissig!“ entfährt es ihm.
     „Bitte, was meinen Sie?“
     „Ich – ich kann das natürlich völlig verstehen. Ja,  selbstverständlich, es – es kommt  nur  etwas  unerwartet und ich – ich ...“
     „Herr Faust, es ist ja nur ein Aufschub und –, nun ja, es hängt natürlich auch von meinem Gesundheitszustand ab.“ Und nach kurzem Zögern: „Herr Faust, glauben Sie mir, Sie haben mein volles Vertrauen!“

     Irgendwie findet sich Werner Faust in seinem Glaskasten wieder. Mechanisch öffnet er Schubladen, füllt den Formularkasten nach. –  Gesundheitszustand  –  Vertrauen  –  VERTRAUEN –. Die Worte stehen wie eine Wand vor ihm. ‘Lauter höfliche Lügen!’ durchzuckt es ihn. Er hätte es wissen müssen: Die Video-Kassette, der Zettel, das Handgeld, sein Griff zur Tresortür. Das war eindeutig. Auch ohne Worte.
     „Jutta –?“
     Der Schuß. Er fährt zusammen, als es im gleichen Augenblick knallt. Ein Kunde hat seinen Regenschirm an die Schaltertischkante gehängt. Als er sein Sparbuch aus der Brieftasche nimmt, klatscht der nasse Schirm auf den Boden.
     „Ich möchte bitte Geld abheben, vom Sparbuch, viertausendfünfhundert Mark. Ich hab’ das gekündigt für heute.“
     Geistesabwesend füllt Werner Faust den entsprechenden Vordruck aus. „Bitte sehr, wenn Sie hier unterschreiben wollen.“ Er hat das Gefühl, ein Automat zu sein.
     „Oh nein“, sagt der Kunde, ein junger Mann im Motorrad-Kombi, „soviel Geld hab’ ich ja gar nicht! Das wäre schön. Viertausendfünfhundert wollte ich nur!“ und reicht den Auszahlungsschein zurück.
     Werner Faust nimmt das Formular zurück und liest in seiner eigenen Handschrift: ‘Fünfundvierzigtausend’. ‘Nein’, springt es ihn an, ‘nein, das kann nicht sein!’ Er schaut auf. Aber vor ihm steht kein Weihnachtsmann.
     Der junge Mann lächelt: „Das wäre schön, nicht wahr?“
Ohne etwas zu sagen, zerreißt Werner Faust den Zettel ganz langsam in sehr kleine Stücke. ‘So einfach ist das’, denkt er. Aber da ist die Videokamera: „Was war denn das für ein Zettel, Herr Faust?“
     Ein wenig irritiert verfolgt der Kunde, wie der Kassierer langsam und sorgfältig ein neues Formular ausfüllt. ‘Reiß’ dich zusammen’, flüstert er dabei, ohne die Lippen zu bewegen, ‘reiß’ dich zusammen!’ Den Rest des Tages verbringt er wie in Trance. Was ist denn da in den vergangenen zehn Monaten abgelaufen? Plötzlich vermutet er hinter jeder harmlosen Bemerkung seiner Kollegen, hinter jeder betrieblichen Maßnahme, die ihm in Erinnerung ist, und die sich irgendwie in einen Zusammenhang mit dem Überfall bringen läßt, einen Hinweis auf seine offenbar für möglich gehaltene Komplizenschaft. Aber das darf doch alles nicht wahr sein! Und er selbst hat wahrscheinlich mit seiner beharrlichen Weigerung, im Kollegenkreis zu dem Vorfall Stellung

Veröffentlicht / Quelle: 
Flugenten - 19 unordentliche Geschichten (Buch)

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