Strohmänner

Bild von Kerim Mallée
Bibliothek

Er hatte die Strohmänner wieder aufgestellt, mitten im gemähten Weizenfeld. Seit Wochen ging das so, ein unbekannter stellte Nacht auf Nacht, zwei aus Strohballen gebaute Figuren in Margarethes Feld, die wegen der runden Elemente, an Schneemänner erinnerten. Margarethe war den Tränen nahe, weil ihr so übel mitgespielt wurde. Kurz zuvor war ihr Mann Thomas, nach langer Krankheit gestorben und jetzt lebte die alte Dame ganz allein hier draußen. Ab und zu sah Wachtmeister Anders, ein alter Freund ihres Mannes nach dem Rechten, aber sonst hatte sie niemanden, denn aus der Ehe mit Thomas waren keine Kinder hervorgegangen. So hatte sie niemanden, den sie um Hilfe bitten konnte. Dem Wachtmeister würde sie sich sicher nicht anvertrauen, er würde sie noch für verrückt halten. Außerdem hatte er schon damals bei der Beerdigung angedeutet, dass er es für besser hielte, wenn sie in ein Seniorenheim ziehen würde. Die Figuren sollten offenbar ein Brautpaar darstellen, sie waren mit allerlei Tuch eingekleidet. Der unbekannte Unmensch hatte sich die Mühe gemacht, jedes Mal eine übergroße Garderobe für die beiden zu schneidern. Er trug einen schwarzen Anzug und sie ein weißes Brautkleid. Die Kleidungsstücke erinnerten sie stark an ihre eigene Hochzeitsgarderobe, doch wegen der unförmigen Strohkörper, konnte sie nicht sicher sagen, ob dies vom Übeltäter beabsichtigt war. Das ganze hätte als unschuldiger Jungenstreich durchgehen können. Doch der Künstler hatte jedes Mal ein weißes Daunenkissen, mit Hilfe eines Jagdmessers, in das Gesicht des Bräutigams geheftet und so das konservative Bild, der idyllischen Ehe zerstört. Diese Anomalie machte Margarethe schier wahnsinnig, hielt sie die Ehe doch für eines der höchsten Ideale, die man im Leben anstreben kann und war in ihrer eigenen bis zum Ende glücklich gewesen. Aber sie hatte schon einen Verdacht und war sich sicher, den Urheber dieser Perversion zu kennen. Ihr Nachbar hatte bereits mehrfach Interesse an ihrem Gut geäußert. Doch Margarethe hatte sich geweigert zu verkaufen, schließlich fühlte sie sich hier draußen wohl und außerdem weckte dieser junge Kerl Unbehagen in ihr. Im Dorf wurde sogar gemunkelt, dass seine letzte Ehe geschieden wurde, weil er seine schwangere Frau für ein gerade mal 16 jähriges Schulmädchen hatte sitzen lassen. Und was das schlimmste von allem war, dieser junge Mann war offenbar Atheist, denn er erschien nie zur Sonntäglichen Messe. Sie war sich sicher, dass er hinter diesem nächtlichen Spuk steckte. Es war seine feste Absicht sie von hier zu vertreiben, oder sie so lange zu quälen, bis sie ihrem lieben Thomas ins Grab folgen würde. Doch nicht mit ihr. Sie hatte einen gewitzten Plan entworfen, um diesen bösen Menschen dingfest zu machen. Seit Wochen lag sie in ihrer Küche, deren Fenster zum Feld zeigte, auf der Lauer. Sie saß jeden Abend Stundenlang im Dunkeln, um sich nicht zu verraten. In ihrer, während eines langen Lebens erworbenen Raffinesse, schaltete sie jeden Abend gegen acht Uhr, das Licht in ihrem Schlafzimmer ein. Über die Sicherungen in der Küche konnte sie nun, ein paar Stunden später, ein „zu Bett gehen“ simulieren. Sie achtete mit peinlicher Genauigkeit darauf, dafür jeden Abend eine Uhrzeit zu wählen, die kein System hinter ihrer Schlafgewohnheiten erkennen ließ. Doch trotz ihrer diebischen Schläue, schlief sie jedes Mal gegen Mitternacht ein. Wenn sie am Morgen danach erwachte, hatte der Verbrecher die Figuren bereits aufgestellt und war ihr immer wieder entgangen. Heute würde sie ihn kriegen, diesmal lauerte sie nicht in der Küche, sondern ging ganz normal gegen acht Uhr zu Bett und las noch ein bisschen in einem Kriminalroman. Um zehn löschte sie das Licht und schlief ein. Doch damit sie ja nicht verschlief, hatte sie sich ihren Wecker auf halb zwölf gestellt. Sie war bereits am Nachmittag sicher gegangen, dass man das Klingeln außerhalb des Hauses nicht hörte. Sie wusste genau, dass er nicht vor Mitternacht zuschlagen würde, sonst hätte er es vorher schon einmal getan. Margarethe hatte keinen besonders tiefen Schlaf und wurde planmäßig  geweckt. Angetrieben von einem Hochgefühl, das sie seit ihren Mädchentagen nicht mehr verspürt hatte, schlich sie, bereit die ganze Nacht zu wachen, in die Küche. Ihr Frohsinn wurde prompt, durch blankes Entsetzen zerschmettert. Wieder standen die Strohmänner im Weizenfeld und wieder war das diabolische Daunenkissen im Gesicht des Bräutigams aufgespießt. Das konnte nicht das Werk ihres Nachbarn sein, dahinter musste jemand stecken, der ihre Gewohnheiten genau kannte. Thomas vielleicht? Nein Thomas war zu krank. Wie unangenehm er doch jede Nacht hustete und sich vor Schmerzen wand, dass es Ekel in ihr erzeugte und sie kein Auge zubekam.
Krank? Wie kommst du nur auf solche Gedanken? Er hat nicht mehr geatmet, als du das Kissen von seinem Gesicht genommen hast! Er konnte sich nicht wehren, er war zu krank! Es wäre sowieso nicht mehr lange mit ihm gegangen. Du hast ihm einen Gefallen getan. Nein. Eigentlich wolltest du nur ruhig schlafen. Thomas ist tot, du hast ihn begraben. Sechs Fuß Erde trennen seinen vermoderten Körper vom Tageslicht.
Doch um wen handelte es sich dann, bei diesem Geisteskranken Puppenspieler? Sie würde diesem Treiben jetzt ein Ende setzen und so ging sie in die Scheune, nahm einen Kanister Benzin in jede Hand und schritt entschlossen in die Nacht. Als sie bei den Strohmännern ankam, war keine Spur des Störenfrieds zu finden, denn das kurzgemähte Feld war zu trocken für Fußabdrücke. Margarethe übergoss die Strohgestalten mit Benzin und als diese in Flammen aufgingen, schienen die physikalischen Gesetze aus ihren Angeln gehoben, als hätte sie den Sonnenaufgang vorverlegt. Lächelnd starrte sie in die Flammen, bis nur noch Asche übrig blieb. Danach ging sie zurück zum Haus, mit der Absicht sich schlafen zu legen. Doch als sie in der Küche war, griff sie zum Telefon und rief auf dem Polizeirevier an. Als sie die Stimme des Wachtmeister am anderen Ende hörte, sagte sie: „Kommen sie schnell her, vielleicht versucht der Unhold die Strohmenschen wieder aufzustellen.“ Dann legte sie auf und ging schlafen. Margarethes Stimme hatte eine stark beunruhigende Wirkung, auf Wachtmeister Anders. Seit der Beerdigung seines Freundes, hatte er sich große Sorgen um die alte Dame gemacht. Also fuhr er sofort mit zwei Polizisten los, um nach dem Rechten zu sehen. Als sie ankamen, stand der ganze Hof in Flammen. Sofort wurde die Feuerwehr gerufen, doch trotzdem konnten später nur noch Margarethes verbrannte Überreste geborgen werden. Zusammen mit denen, zweier Benzin Kanister. Offenbar hatte sich die alte Dame das Leben genommen, es fanden sich jedenfalls keine Spuren von Fremdverschulden. Als Anders am nächsten Morgen heimfuhr, kamen seine Gedanken nicht zur Ruhe. Was hatte Margarethe am Telefon gemeint? Waren diese Strohmänner nur den Gedanken einer alten, labilen Frau entsprungen? Er hatte das ganze Gelände abgesucht, doch von ihnen fehlte jede Spur. Eigentlich gab es auf dem ganzen Hof, seit langem kein Stroh mehr. Als Thomas krank wurde, hatten sie die Landwirtschaft aufgegeben und die Scheune blieb seit dem leer. Während er so nachdachte, fiel ihm plötzlich wieder auf, wie müde er war und dies vor lauter Aufregung nicht gemerkt hatte. Also beschloss er direkt nach Hause zu fahren. Er hatte genug vom Anblick dieses endlosen, verwilderten Feldes. 

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