Tietsche

Bild von Cori
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Es dämmerte bereits. Der Sturmwind peitschte das Meer. Dicht aneinander gedrängt stand Elise mit ihren Kindern nahe am Kai – eigentlich zu nah. Sie hatten eine heilige Pflicht zu erfüllen und ertrugen darum jede eisige Fuhre Wassers, die die aufgewühlte See mit berstenden Wellen über sie schüttete.
Ihre Filzmäntel hielten dem nicht mehr Stand und alle drei waren fast bis auf die Haut durchnässt.
„Kinder! Wir müssen uns beeilen, sonst war Tietsches Heldentat umsonst und wir sterben an einer Lungenentzündung!“
Der achtjährige Hannes und seine zwei Jahre jüngere Schwester Anni hielten gemeinsam das schwere, eingewickelte Bündel umklammert, welches die sterblichen Überreste ihres Helden barg.
„Du musst erst beten, Mutter!“, rief Anni gegen den brausenden Wind an.
„Ich weiß nicht, ob man für einen Hund beten darf!“, entgegnete sie in derselben Lautstärke. Schon sah sie, wie beide Kinder entsetzt die Augen aufrissen und sie dann flehend anblickten.
„Aber Mutter! Tietsche kommt gewiss in den Himmel! Er hatte eine Seele, das weißt du doch auch!“ Hannes hatte damit die passenden Worte gefunden und so überwand Elise ihr schlechtes Gewissen … denn Tietsche war schließlich nicht getauft.
„Gut, gut! Ich bete.“
Die Trauernden senkten ihre Blicke. Hannes und Anni drückten Tietsche an sich - das ersetzte die übliche Gebetshaltung – nur Elise löste nach kurzem Zögern ihre schützende Umarmung und faltete mit Mühe ihre vor Kälte klammen Hände.
„Lieber Gott, wir müssen uns heute von unserem besten Freund verabschieden“, begann sie, „… von unserem geliebten Hund Tietsche. Du weißt, wir wären nicht hier, wäre er nicht so tapfer gewesen. Er rettete uns das Leben, als er den betrunkenen Mann ohne Zögern angriff, der schon ein Messer gezückt hatte, um uns Böses anzutun …“
Elise wollte nicht davon sprechen, dass der Mann ein ehemaliger Freier gewesen war, den sie nach ihrem Liebesdienst heimlich den Geldbeutel abgenommen hatte. Ihre Kinder, beide unehelich geboren, musste sie allein versorgen – da durfte sie manchmal nicht zimperlich sein. Nun war ihr kleiner Beschützer tot. Der Mann würde noch lange an den Bisswunden zu leiden haben …
„… Tietsche hatte eine große, gute Hundeseele und darum bitten wir dich, Allmächtiger, lass ihn in den Himmel …“, sie wollte keine Gotteslästerung begehen, „ … oder in den Tierhimmel!“ verbesserte sie sich schnell.
Sie schaute ihre Kinder fragend an – die nickten zufrieden – und gemeinsam sprachen sie ein langgezogenes, lautes „Amen!“
„Nun müsst ihr Tietsche in die Wellen werfen!“, forderte sie Hannes und Anni auf. Sie taten es ohne zu zögern, denn sie konnten ihn kaum noch halten.
Das Bündel fiel in die wild bewegten Fluten. Ein Seufzen der Kinder begleitete Tietsche - aber das war nicht zu hören.
Mit festem Griff schob Elise die beiden energisch in Richtung der Häuser, die dicht am Hafen lagen.
Sie hatten kaum die schützenden Mauern erreicht, als sich plötzlich der Wind legte. Erstaunt wandten sie sich um. In der Ferne hörten sie Hundegebell.
„Siehst du, Mutter, jetzt ist Tietsche angekommen“, sprach Hannes feierlich. Elise und Anni glaubten ihm – sie wunderten sich nicht einmal ein ganz kleines Bisschen darüber.

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Kommentare

22. Jan 2015

Traurig zwar - macht dennoch Mut...
Ist NICHT kitschig - ist ECHTgut!
LG Axel

23. Jan 2015

Der Text und auch der Stil gefällt,
das Tier ist hier der große Held!

23. Jan 2015

Wunderbarer Schreibstil!
Herzliche Grüße,
Angélique