Weißbrot

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Weissbrot

Er hörte sie reden, verstand aber ihre Sprache nicht.
Wenn er sie wenigstens sehen könnte, vielleicht würde er aus ihren spitzen Gesichtern etwas ablesen können! Voller verzweifelter Wut trat er gegen die Wand und spuckte ein paar deftige Flüche aus. Das half so wenig, wie sein ängstliches Abwarten die Tage vorher, als er nur auf seiner Pritsche gesessen und auf eine Erklärung gehofft hatte, irgendeine. Aber seit sie ihn mitten aus dem Fußgängerstrom gegriffen und trotz seiner erbitterten Gegenwehr wortlos in diese Zelle ohne Fenster gesteckt hatten, hatte er niemanden wieder zu Gesicht bekommen. Gegen Ende des ersten Tages hatte er versucht, mit dem Schalter neben der Tür das Deckenlicht auszustellen, aber die Lampe brannte unbeirrt weiter.

Der Hunger zerfraß seine Eingeweide, in einem erneuten Schmerzanfall krümmte er sich zusammen. Nur am ersten Tag hatte er eine Scheibe Weissbrot, einfach nur Weissbrot, durch die Klappe in der Tür geschoben bekommen, seitdem nichts mehr. Er musste diesen Hunger betäuben, also trank er direkt aus dem Hahn gierig so viel Wasser, wie sein Magen nur fassen konnte. Lange würde das auch nicht vorhalten, das hatte er in den letzten drei Tagen schon gemerkt. "Und hübscher geworden bist du nicht", sagte er zu seinem Spiegelbild und wischte sich die Bartstoppeln mit dem Handrücken trocken.

Wollten sie ihn denn verrückt machen? "Da könnt ihr aber lange warten, ihr Scheißkerle!", brüllte er seinen Hass an die Decke. Die Stimmen verstummten. Er nahm einen Anlauf und warf sich mit aller ihm verbliebenen Kraft gegen die Tür, wieder und immer wieder. Natürlich nützte das nichts, aber kampflos aufgeben, nein, diese Genugtuung wollte er ihnen nicht lassen. Als seine Schultern schmerzten, brach er seinen letzten Versuch erschöpft ab. Trockenes Schluchzen schüttelte seinen Körper, als er sich mit dem Rücken gegen die Wand und den Lichtschalter lehnte und seine Beine unter ihm nachgaben. Aus der Klappe in der Tür fiel eine Scheibe Weissbrot auf den Boden. Er sah es, aber es ging ihn nichts an.

Das Brot blieb dort liegen. Misstrauisch beäugte er es, dann griff er zu und schlang es hinunter. Nie hätte er geglaubt, dass trockenes Brot so gut schmecken könne! Etwas klickte in seinem Kopf. Wie war das? Er war gegen den Lichtschalter gekommen, und dann war das Brot... Er sprang auf und drückte den Schalter mit beiden Händen gleichzeitig. Da kam wieder eine Scheibe Brot. Er bückte sich und schob sie sich in den Mund. Mit einem hysterischen Lachen drückte er den Schalter wieder und wieder, der Brotausstoß erfolgte im gleichen Rhythmus. Seelig ließ er sich auf den Boden fallen und genoß das Gefühl der Sättigung, das ihn schon bald durchströmte.

"Du hast dir ja Zeit gelassen, mein Junge", seufzte Linda Lou, sorgfältig trug sie das Ergebnis zusammen mit der Uhrzeit in das Laborbuch ein. Professor Rodney O'Rourke strich sich schmunzelnd über seinen Schnauzbart, bevor er ihr aus dem Laborkittel half: "Dann können wir ja auch endlich Essen gehen."
Mit aufreizender Geste glättete Linda Lou ihren weißen Pelz und schlang sich ihren haarlosen Schwanz elegant um die Schultern. Ihre Augen leuchteten wie Rubine so rot.

© noé. Alle Rechte bei der Autorin.

Interne Verweise

Kommentare

05. Dez 2014

Die Geschichte:witzig, originell! -
Schimmert wie ein Weißbrot hell....-
Ergo stets bloß Schwarzbrot essen -
Labor - Ratten kann man vergessen....
LG Axel

05. Dez 2014

Vergiß nicht ihre roten Augen: / Zu manchem Grusel sie noch taugen!

17. Dez 2014

Gefällt mir, wie andere deiner Geschichten auch!