ANNA - Ein Kind von Traurigkeit

Bild von Rubin
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"Frau, wach auf!" rief eines Nachts der junge Schneidergeselle, "Ich glaube, unser Kindchen stirbt."

Das kleine, dunkelhäutige, Schwarzhaarige zappelte noch ein wenig, dann legten die entsetzten Eltern die kleine Leiche beiseite und weinten bitterlich. Von Gram noch gebeugt, erbat die junge Frau von ihrem Mann - als Ersatz - ein neues Kind und es sollte - bitteschön! - wieder ein Mädchen sein, denn einen Jungen von fünf Jahren hatten sie bereits. Nach knapper Jahresfrist war es soweit, sie gebar ein Mädchen. Die Hebamme erklärte, noch kein so hässliches Kind auf die Welt gebracht zu haben. Die Eltern glaubten ihr das, und was quellköpfig, froschmäulig und plump zutagetrat, veranlasste den großen Bruder zu der Frage: "Das schöne Baby musste sterben, und das hässliche sollen wir nun behalten?" Im Lauf der Jahre veränderte sich das kleine Mädchen zu ihrem Vorteil und wurde - in goldblondarischer Weise - richtig hübsch. (Es wurde übrigens 1938 in Essen geboren.) Ein glückliches Kind war es jedoch nicht. Es litt immerzu an irgendwelchen Krankheiten und merkte bald: mit dieser Welt, in die es hineingeraten war, stimmte etwas nicht. Außer dass ein drittes Kind die Familie bereicherte, war es zu Hause eng und arm. Die Eltern schrien sich an, ständig musste man in den Keller, weil die Bomben fielen. Die 14jährige Ruth Isaak, die jeden Tag zum Spielen kam, wurde nicht mehr in die Wohnung gelassen und verschwand spurlos. Der Vater zog in den Krieg und schickte nun wehmütige Briefe nach Hause. Als der Frieden kam, stand er unverkrüppelt und aufbauwillig vor der Tür, um gleich wieder mit dem Krach und Streit loszulegen. Der Mensch kann, so erfuhr das Mädchen am eigenen Leibe, ganz angefüllt mit Angst sein, bis nichts mehr in ihm drin ist außer Angst.

Nur eine Lehrerin bot sanften Ausgleich, und die ruhige, gütige Großmutter mütterlicherseits erzählte wunderschön von ihrer masurischen Heimat. Die Großmutter war fromm und las sogar in der Bibel. Das Mädchen beschloss: wenn ich groß bin, schreibe ich Novellen und Gedichte und nenne mich - Großmutter zu Ehren - ANNA RUBIN -, wie sie heißt.

Das Mädchen las leidenschaftlich gern, und wichtiger als das sogenannte reale Leben waren ihr Traum und Imagination. Dann kam die Zeit, einen Beruf zu ergreifen, und wen wundert's dass man da an einen Buchhändler (besser - in) dachte? Unter der Fuchtel einer strengen, anthroposophischen Lehrherrin war das wahrlich kein Zucker-, sondern (eine neue Wortschöpfung!) eher ein Salzschlecken. Dennoch brachte das Mädchen mit zähnefletschendem Eifer 3 Jahre hinter sich und hatte endlich Glück im Leben und damit den Posten einer Werksbibliothekarin. Nun war das Mädchen eine richtige "Karrierefrau" geworden und rieb sich die Hände, glaubend, die Aufgabe fürs Leben gefunden zu haben. Weit gefehlt! Ebenso händereibend kam ein junger Mann aus Bochum (der auch eine Lebensaufgabe suchte!) und führte seinen Bücherwurm (nach Bochum) heim. Nachdem zwei Jahre lang mit Feuereifer Bücher ausgegeben waren und sich bildungshungrige Leser liebevoll beraten sahen, gab es einen tränenreichen Abschied. Die junge Frau bekam ein Kind und wurde damit treusorgende Mutter.

Mann will ja nicht undankbar sein, aber, als das Töchterchen zur Schule ging, stellte sich bei Mama die inzwischen seltsam bekanntgewordene Hausmütterchen-Leere ein. Da kamen nun die Gedanken an früher und welche Träume es da gegeben hatte. Während tüchtige Nachbarinnen z. B. an der Volkshochschule unterrichteten oder wenigsten im kirchlichen Gemeindehaus Bastelkurse zur Herstellung weihnachtlicher Strohsterne abhielten, fing unsere Anna forsch an zu schreiben. Die Novellen schob sie noch beiseite, machte stattdessen - wie apart - kleine Sachen fürs Theater (fürs Theater-machen war sie immer zu haben!). Leider wandte sich der damalige Intendant des Bochumer Schauspielhauses schaudernd davon ab.
Die kleine Familie zog indessen von einer Wohnung zur anderen, und als man eines Tages zu dritt einen lauschigen Wald durchwandert hatte, entdeckte man plötzlich längs der Dorfstraße ein großes behäbig-leuchtendes Haus mit Anbauten. "Da möchte ich wohnen!" rief die Frau entzückt, und siehe da, es schien nur auf sie gewartet zu haben: Das Haus stand frei zum Verkauf. Eh man sich dessen versah, fand man sich darinnen, nebst vielen Mäusen in Ecken und Winkeln.

Die Jahre vergingen. Aus dem kleinen Mädchen wird langsam ein altes Mädchen. Viel gibt es in dem Haus zu tun, und neben dem Gedichteschreiben hat die Anna eine weitere Liebhaberei entdeckt: sie nimmt alles, was verstört und heimatlos ist, liebevoll ans Herz und unter ihre Fittiche. Ach, was gibt es alles bei ihr zu sehen, so dass die Nachbarskinder am Abend am liebsten gar nicht mehr zu ihren ordentlichen, aber langweiligen Eltern zurückwollen: Käfige mit Vögeln aller Art - auch gezähmte Spatzen -, Waschkörbe, in denen abgemagerte Katzen kräftigeren Zeiten entgegendösen, bedenklich gen Himmel stinkende Igel in Kartons, welkende Blumen, aus dem Müll der Nachbarn gesammelt, wurmstichige Möbel, mottendurchlöcherte Orientteppiche, eingedelltes Spielzeug, henkellose Blümchentassen, heilige Ikonen, auf denen der halbe Herr Jesus einer zweiten Wiederauferstehung harrt.

Gut, dass auch Annas Mann so eigenartig veranlagt ist.

"Die Kindheit ist nun lange her, fast tausend Jahre und noch mehr ... "

Aber tief drin in der Anna steckt immer noch das kleine Mädchen, mit all seiner Verlorenheit, den Ängsten und bangen Fragen, warum es so auf der Welt sei und nicht ein bisschen anders. Wenn die Beklommenheit ihr dann das Herz einpresst, setzt sie sich hin und macht ein Gedicht daraus. Nun ja ...

Veröffentlicht / Quelle: 
SILHOUETTE Literatur - International; No.13/1981