Die Mauer

Bild von Mitch Cohen
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1961. Die amerikaweit verteilte Schulzeitung „My Weekly Reader“ bringt kindgerechte Artikel: „Diktatur hält halbe Stadt eingesperrt“. Diktaturen, das kenne ich schon: Kriegsfilme mit Nazis. Wir sind Juden. Aber das war alles anderswo. Hier ist Kalifornien. Vater baut Raketen; ich mag die Fotos von den Probe-Abfeuerungen, die er nach Hause bringt.

An einem Tag, nach Alpträumen vom Dritten Weltkrieg, bleibe ich wegen Magenschmerzen von der Schule zu Hause. Starre gebannt auf das Fernsehen, wo Gregory Peck und sein multi-rassisches amerikanisches Bataillon (oder ist es ein multi-nationales UNO-Bataillon?) in Korea für die Freiheit aufräumen, für die Anständigkeit, für den Apfelkuchen, dessen Instant-Version in den Werbespots gehuldigt wird.

Am Nachmittag, als es zu spät ist, doch noch in die Schule zu rennen, und während Mrs. O’Toole’s Lern-Regime sehnsuchtsvoll aus dem Fenster zu schauen, lassen meine Magenschmerzen nach.

Meine Schwester kommt nach Hause. In unsrem Vorstadt-Hintergarten fangen wir Falter in leichten Netzen.

Wir wollen sie fangen, ja, aber was sollen wir mit ihnen dann machen? Wir sind keine Sadisten, wie der Nachbarsjunge, der gerne streunende Katzen fängt, um sie aufzuhängen. Unsere Falter haben besseres als Chloroform und Stecknadeln in Styropor verdient. Die Gefangenen loslassen? Aber wozu sie denn fangen?

Wir sind keine Sadisten, wir lieben das Leben und auch die schönen kleinen Lebewesen. Also machen wir es schön für sie.

Hinterm Gebüsch eine winzige Ferienhütte aus Erde bauen. Abgeknickte Stengel der Lieblingsblumen liebevoll darauf, darein und dazu legen. Fenster in die Wände stechen. Fertig.

Falter fangen, so fünf je Netz. Die vorsichtigen Finger meiner Schwester tragen die Kleinen zur Hütte. Die verwirrten Falter krabbeln zuerst bloß herum. Dann, erholt, prüfen sie ihre Flügel mit vorsichtigen auf-und-zu-Bewegungen. Die Lieblingsblumen rühren sie nicht an. In schneller Aufeinanderfolge fliegen sie weg.

Unsere ganze Arbeit und unsere ganze Fürsorglichkeit umsonst.

Um ihr Glück zu genießen, müssen die Falter eben erst lernen, es zu erkennen. Das müssen sie. Also müssen wir sie dazu bringen, da wir es kennen. Sonst lernen sie es nicht.

Noch mehr Blumen. Die Ferienhütte wird zum Schloß mit irdenen, befensterten Oberstockwerken und feierlichen Schießscharten. Ringsherum kratze ich den Burggraben in die harte Erde, dann fülle ich ihn mit dem Rasenschlauch. Einen Plastikritter setze ich als kleines Denkmal aufs Gelände.

Falter in den Netzen. Diesmal sollen sie ansässig werden. Hier in ihrer kleinen Utopie. Die Nachbarkinder kommen vorbei und bewundern unser Projekt, mit viel Fantasie ausgedacht und aufgebaut für Falter und ihr Wohlbefinden.

Ich komme auf die Maßnahme. Meine Schwester hat flinkere und behutsamere Finger, auch wenn sie Splitter entfernt. Also führt sie die gebotene Operation aus…