DER KETZER VON SOANA

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von
Gerhart Hauptmann

1922
S. Fischer, Verlag
Berlin
114. bis 124. Auflage

Copyright 1918 by S. Fischer, Verlag Berlin

Reisende können den Weg zum Gipfel des Monte Generoso in Mendrisio
antreten oder in Capolago mit der Zahnradbahn, oder von Melide aus
über Soana, wo er am beschwerlichsten ist. Das ganze Gebiet gehört zum
Tessin, einem Kanton der Schweiz, dessen Bevölkerung italienisch ist.

In großer Höhe trafen Bergsteiger nicht selten auf die Gestalt eines
brilletragenden Ziegenhirten, dessen Äußeres auch sonst auffällig war.
Das Gesicht ließ den Mann von Bildung erkennen, trotz seiner
gebräunten Haut. Er sah dem Bronzebildnis Johannes des Täufers, dem
Werke Donatellos im Dome zu Siena, nicht unähnlich. Sein Haar war
dunkel und ringelte über die braunen Schultern. Sein Kleid bestand aus
Ziegenfell.

Wenn ein Trupp Fremder diesem Menschen nahe kam, so lachten bereits
die Bergführer. Oft wenn dann die Touristen ihn sahen, brachen sie in
ein ungezogenes Gebrüll oder in laute Herausforderungen aus: Sie
glaubten sich durch die Seltsamkeit des Anblicks berechtigt. Der Hirte
achtete ihrer nicht. Er pflegte nicht einmal den Kopf zu wenden.

Alle Bergführer schienen im Grunde mit ihm auf gutem Fuße zu stehn.
Oft kletterten sie zu ihm hinüber und ließen sich in vertrauliche
Unterredungen ein. Wenn sie zurückkamen und von den Fremden gefragt
wurden, was da für ein seltsamer Heiliger sei, taten sie meist so
lange heimlich, bis er aus Gesichtsweite war. Diejenigen Reisenden
aber, deren Neugier dann noch rege war, erfuhren nun, daß dieser
Mensch eine dunkle Geschichte habe und, als »der Ketzer von Soana« vom
Volksmund bezeichnet, einer mit abergläubischer Furcht gemischten
zweifelhaften Achtung genieße.

* * * * *

Als der Herausgeber dieser Blätter noch jung an Jahren war und das
Glück hatte, öfters herrliche Wochen in dem schönen Soana zuzubringen,
konnte es nicht ausbleiben, daß er hin und wieder den Generoso bestieg
und auch eines Tages den sogenannten »Ketzer von Soana« zu sehen
bekam. Den Anblick des Mannes aber vergaß er nicht. Und nachdem er
allerlei Widersprechendes über ihn erkundet hatte, reifte in ihm der
Entschluß, ihn wiederzusehen, ja, ihn einfach zu besuchen.

Der Herausgeber wurde in seiner Absicht durch einen deutschen
Schweizer, den Arzt von Soana, bestärkt, der ihm versicherte, wie der
Sonderling Besuche gebildeter Leute nicht ungern sehe. Er selber hatte
ihn einmal besucht. »Eigentlich sollte ich ihm zürnen,« sagte er,
»weil mir der Bursche ins Handwerk pfuscht. Aber er wohnt so hoch in
der Höhe, so weit entfernt, und wird Gott sei Dank nur von den wenigen
heimlich um Rat gefragt, denen es nicht darauf ankäme, sich vom Teufel
kurieren zu lassen.« Der Arzt fuhr fort: »Sie müssen wissen, man
glaubt im Volk, er habe sich dem Teufel verschrieben. Eine Ansicht,
die von der Geistlichkeit darum nicht bestritten wird, weil sie von
ihr ausgegangen ist. Ursprünglich, sagt man, sei der Mann einem bösen
Zauber unterlegen, bis er dann selbst ein verstockter Bösewicht und
höllischer Zauberer geworden sei. Was mich betrifft, ich habe weder
Klauen, noch Hörner an ihm bemerken können.«

* * * * *

An die Besuche bei dem wunderlichen Menschen erinnert sich der
Herausgeber noch genau. Die Art der ersten Begegnung war merkwürdig.
Ein besonderer Umstand gab ihr den Charakter einer Zufälligkeit. An
einer steilen Wegstelle fand sich nämlich der Besucher einer hilflos
dastehenden Ziegenmutter gegenüber, die eben ein Lamm geworfen hatte,
und dabei war, ein zweites zu gebären. Das vereinsamte Muttertier in
seiner Not, das ihn furchtlos anblickte, als ob es seine Hilfe
erwartet habe, das tiefe Mysterium der Geburt überhaupt inmitten der
übergewaltigen Felsenwildnis, machten auf ihn den tiefsten Eindruck.
Er beschleunigte aber seinen Lauf, denn er schloß, daß dieses Tier zur
Herde des Sonderlings gehören müsse, und wollte diesen zu Hilfe rufen.
Er traf ihn unter seinen Ziegen und Rindern an, erzählte ihm, was er
beobachtet hatte, und führte ihn zu der Gebärenden, hinter der bereits
das zweite Ziegenlämmchen, feucht und blutig, im Grase lag.

Mit der Sicherheit eines Arztes, mit der schonenden Liebe des
barmherzigen Samariters, ward nun das Tier von seinem Besitzer
behandelt. Nachdem er eine gewisse Zeit abgewartet hatte, nahm er
jedes der Neugeborenen unter einen Arm und trat langsam, von der ihr
schweres Euter fast schleifenden Mutter gefolgt, den Weg zu seiner
Behausung an. Der Besucher wurde nicht nur mit dem freundlichsten Dank
bedacht, sondern auf eine unwiderstehliche Art zum Mitgehen
eingeladen.

Der Sonderling hatte mehrere Baulichkeiten auf der Alpe, die ihm
gehörte, errichtet. Eine davon glich äußerlich einem rohen
Steinhaufen. Innen enthielt sie trockne und warme Stallungen. Dort
wurden Ziege und Zicklein untergebracht, während der Besucher zu einem
weiter oben gelegenen, weiß getünchten Würfel geleitet wurde, der, an
die Wand des Generoso gelehnt, auf einer mit Wein überzogenen Terrasse
lag. Unweit des Pförtchens schoß aus dem Berge ein armdicker
Wasserstrahl, der eine gewaltige Steinwanne füllte, die man aus dem
Felsen gemeißelt hatte. Neben dieser Wanne wurde durch eine
eisenbeschlagene Tür eine Berghöhle, wie sich bald erwies, ein
Kellergewölbe, abgeschlossen.

* * * * *

Man hatte von diesem Platz, der, vom Tale aus gesehen, in scheinbar
unzugänglicher Höhe hing, einen herrlichen Blick, von dem der
Verfasser indes nicht reden will. Damals freilich, als er ihn zuerst
genoß, fiel er von einem sprachlosen Staunen in laute Ausrufe des
Entzückens und wieder in sprachloses Staunen zurück. Sein Wirt aber,
der eben in diesem Augenblick aus der Behausung, wo er etwas gesucht
hatte, wieder ins Freie trat, schien nun auf einmal mit leiseren
Sohlen zu gehen. Solches Verhalten, sowie überhaupt das ganze stille,
gelassene Betragen seines Gastfreundes ließ der Besucher sich nicht
entgehen. Es ward ihm zur Mahnung, mit Worten karg, mit Fragen geizig
zu sein. Er liebte den wunderlichen Sennen bereits zu sehr, um Gefahr
zu laufen, sich ihn durch einen bloßen Schein von Neugier oder
Zudringlichkeit zu entfremden.

Noch sieht der Besucher von damals den runden Steintisch, der, von
Bänken umgeben, auf der Terrasse stand. Er sieht ihn mit allen guten
Dingen, die der »Ketzer von Soana« darauf ausbreitete: dem
herrlichsten Stracchino di Lecco, köstlichem italienischen Weizenbrot,
Salami, Oliven, Feigen und Mispeln, dazu einem Krug voll roten Weins,
den er frisch aus der Grotte geholt hatte. Als man sich setzte, sah
der ziegenfellbekleidete,

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