Läuterung 015 : Das Märchen von der jungen Kordel

Bild von Klaus Mattes
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Es war einmal eine kleine Kordel, die war noch jung, aber doch schon einigermaßen lang. Manches Jahr schlängelte sie sich alleine durchs Leben und das Herz war ihr darüber schwer geworden. Da gelangte sie zu einer Weggabelung, wo die große Landstraße nach der Heiligen Stadt Rom geht. Ein Ritter stand in der Mitte des Platzes in seiner grünen Rüstung auf dem Taburett und wies allen Reisenden ihre Richtung nach dem herrlichen Italien und sah auch ganz allgemein darauf, dass den Gesetzen des Reiches genügend Genüge getan wurde.

„Ach“, seufzte die Kordel da, „welch stolzer Gesell! So wollt ich leben, jedem eine Richtung weisen und Respekt erfahren von allen!“

Vor allem die blitzenden Knöpfe am Gewand des grünen Ritters gefielen ihr nicht wenig. Es fehlte nicht einer von diesen Knöpfen; einen besonders großen trug er an der Brusttasche. Dort wollte sie gern auch hangen und prangen, die junge Kordel. „Denn bestimmt“, sprach sie zu sich, „hat der Grüne eine Pfeife, die bislang lose in seiner Tasche verwahrt ist. Leichtens könnte ich sie für ihn halten. Wenn er pfeift und alle Leute hinsehen, sehen sie mich hangen an meinem grünen Ritter.“
Doch der Ritter, er rief zu ihr herab: „Geh weiter, du, halt mir den Verkehr nicht auf!“

Mit seiner Lanze wies er ihr den Weg. Und in demselben Augenblick kam ein hoher gelber Wagen gefahren - von der Linie 4 - und der hielt an.

„So will ich mit diesem reisen in die ferne Welt hinaus“, sprach die Kordel, „etwas Besseres als Ignoranz werde ich schon finden.“

Aber drinnen herrschte ein Gedränge; ziemlich ungeschlachtes Volk hatte sich eingestellt an diesem Morgen. Die grollten und trachteten danach, einander den letzten freien Platz vor der Nase wegzuschnappen.
„Wenn ich geahnt hätte, dass es in der Welt so herzlos zugeht, wäre ich zu Haus geblieben“, ächzte die Kordel.

In der Tat packte ein Mann, der in einem teuren Pelz gehüllt war und eine nicht weniger kostbare Kappe aufgesetzt hatte, einen reisenden Musikus bei seinen Schuhen und versuchte, ihn von dem Sitzplatz herunter zu ziehen.
„Quanten auf den Boden! Das ist verboten!“
Der Musikant hatte sehr bunte Schuhe an diesen Quanten. Die waren von blauer und weißer und auch noch silberner Farbe und so fest, als wären sie wonnige Wackersteine.

„Alter, was läuft für‘n Film?“, fragte der Musikus oder Studiosus oder sogar Hoffenheim-, wenn nicht KSC-Fan, so tiefblau wie er aussah. Gerade da aber schlingerte der Wagen in eine Kurve und der Leib des Blauen, ungestüm gezerrt von dem Großen, ratschte durchs Gewühl, schlug gegen mehrere Stangen sowie Personen, die gerade da standen. Er boxte wild um sich und versuchte, dem Riesen den teuren Pelz wegzureißen. Es glückte ihm jedoch nicht. Vielmehr hatte er mit einem Mal eine Kordel zwischen den Fingern. Er schleuderte die Kordel in die feuchte, stinkende Luft hinaus. So schlug die Kordel als Erstes auf eine Wand aus biegsamem Glas auf und hier schwanden ihr die Sinne. „O Herr“, hauchte sie noch.

Besinnungslos herumgeschleudert und getreten wurde die Kleine, bis sie zu guter Letzt auf einen Sitzplatz fiel, den einer gerade erst frei gemacht hatte. Es war dies ein Poet des Traumes, dem es in dem Wagen zu heiß und hektisch zugegangen, weshalb der sich entschlossen hatte, draußen in der Luft des frühen Tages wolle er spazieren gehen und was erdichten, sei es auch dumm.

Im grauen Polster sich zu räkeln, tat gut und schon wollte sie glauben, es gäbe Gerechtigkeit in der Welt, man brauche nur Geduld, da griff eine alte Hexe nach der Kordel, der es zu diesem Zeitpunkt sehr schlecht ging. Die Hexe hatte ein Kind auf ihrem Arm, wohl eines, das sie kürzlich irgendwo gestohlen hatte. Denn von einer Hexe, die ihre eigenen Kinder hat, haben wir noch nie etwas gehört.
Die Hexe jaulte und jammerte: „Was das? Du haben Ausweis? Du eine Kordel! Nehme Platz von Kind!“
Und mir nichts dir nichts warf sie das Kind von sich fort und auf den Sessel und auf die Kordel oben drauf.

Mit einem Mal stand der gelbe Wagen da still und alle wurden jetzt sehr leise. Alle fingen sie an, sich zu fragen, was es gleich geben würde.

Vorn im Wagen tat es einen Klackser. Eine kleine, gelbe Pforte schwenkte auf den Mittelgang und ein kleiner Zwerg trat aus der Führerkanzel. Der Zwerg trug einen schwarzen Rock und er hielt eine silberne Pfeife, mit der er um sich stocherte und auf die Hexe zuging. Es war, muss ergänzt werden, ein junger Zwerg und außerdem hatte er eine Brille mit sehr runden Gläsern in dem lustigen Gesicht, sodass er fast so ähnlich wie der mächtige Zauberer Harry Potter aussah, nur viel kleiner halt.

„Wa-a-a-aaas ist hier los?“, sprach der Zwerg. „Ich habe das Kommando und ich schmeiße jeden raus, der ...“
Aber diesen Satz würde er nie mehr beenden, denn, jammernd und feuchte Tröpfchen aus Tränen und Spucke um sich verbreitend, hielt die Hexe ihm die Kordel hin.
„Schuld diese. Meine Kind böse.“
Sprach‘s - und keiner verstand irgendwas davon. Jedoch kam es darauf unter den obwaltenden Umständen gar nicht mehr an.

Die Gläser des Zwerges wurden runder, seine grünen Augen starrten wilder, die runde Nase wurde noch ein Stücklein länger und gebogener, als er die Kordel an sich riss. Seine wulstigen Lippen spitzten sich, als er zischte, pfiff, erst ohne, dann mit seiner silbernen Pfeife, wie forschend zuerst, dann die Kordel an der Pfeife eingehängt. Die Kordel war übrigens, nebenbei noch nachgetragen, aus biologisch abbaubarem Material. Sie wusste nicht, wie ihr geschah.

Laut lachte der schwarz angezogene Zwerg mit der Brille und der gerundeten Nase und er rief aus: „Ein fein gesponnen Band magst du mir sein und passt allerliebst in diesen Wagen.“

Allerdings, auch dies wollen wir nicht verschweigen, war zu damaliger Zeit per höchster kaiserlicher Anordnung das individuelle Tragen von Pfeifen sowei Kordeln an der Brust der schwarzen Uniformen strengstens verboten und untersagt. Wie auch verboten war, in einem gelben Wagen jemals zu pfeifen, sei es mit, sei es ohne Pfeife. Das kaiserliche System war längst auf elektronische Signaltöne umgestellt worden. Der eine schwarze Zwerg kümmerte sich als Einziger nicht um das kaiserliche Gebot. Denn er war nun mal ein Zwerg. Und Zwerge gab es damals nur noch wenige im Land, geschweige, so junge und benaste. Das wusste der Kaiser aber auch und also genoss dieser Zwerg in der Residenzstadt Narrenfreiheit.

Von dem Moment dieser Begegnung fuhr die Kordel immer mit, vorne auf dem Wagen, an der Brust von Schwager Falladei, denn so hieß der Zwerg mit Namen. Sie reisten hin und wieder her zwischen der Gottesaue, durchs Durlacher Tor und neben dem Dörfle entlang und waren eines einzigen Herzens aller ihrer Tage, die der Schöpfer ihnen werden ließ. Manchmal trat auch ein Englein aus dem Dörfle hervor und das zwinkerte ihnen zu, wenn sie vorbeifuhren. Heute noch zwinkern sie zurück, falls sie nicht längst gestorben sind oder diese Geschichte irgendwie gelogen ist, was sie aber nicht ist, denn sie hat ja auch eine Lehre und die ist:

„Seid genau und wählet sehr gut, wenn ihr jemals eine Wahl bekommt!“