Ein Mädchen

Bild von emma
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Beweg dich bloß nicht! Tu so, als wärst du nicht zu Hause. Du musst leiser atmen! Streng dich mehr an, verdammt noch mal! Wieso fängst du jetzt an zu schwitzen? Dein Herz schlägt schneller und schneller. Du bist zu schwach, um den Herzschlag zu kontrollieren. Er wird es mit Sicherheit hören, meinst du nicht? Da! Er kommt näher! –

Panisch verkriecht sie sich tiefer in die Ecke ihres Zimmers, die Beine fest an ihren Körper gepresst und eng mit den Armen umschlungen. Sie stellt sich vor, wie die Wand sie verschluckt und unsichtbar machen würde. Dabei weiß sie genau, dass diese Ecke sie nicht beschützen wird. Denn nichts und niemand kann sie schützen. Niemals. Da ist sie sich mittlerweile sicher. Hatte sie denn nicht erst letzte Woche ganz eindeutige Botschaften in ihr Arbeitsheft in der Schule geschrieben, welche von der Klassenlehrerin eingesammelt wurden? Hatte sie nicht um Hilfe gebeten? Ja, gebettelt? Geschrieben, dass sie nicht mehr Leben will?

Und? Hat es dir geholfen? Nein! Du wurdest deswegen noch von deiner Lehrerin angemeckert und hast Punktabzüge wegen deiner Kritzeleien bekommen. Das hast du nun davon! Ich habe dir schon immer gesagt, dass du vollkommen allein und auf dich gestellt bist und niemand je deinen Alptraum beenden kann. Merk dir das endlich! Du bist schuld! Du ganz allein! Niemand wird das jemals ändern können, denn du bist verantwortlich.

Die Türklinke geht langsam runter. Sie öffnet sich und er guckt sich im Raum um. Ein diabolisches Grinsen auf dem Gesicht. Seine eiskalten blauen Augen haben sie in der Ecke entdeckt und fixiert. „Was soll das?“ faucht er sie an. „Ich habe dich gerufen und dann hast du gefälligst zu kommen! Das habe ich dir schon oft genug erklärt! Wie blöd bist du eigentlich?“
Sie zittert. Sieht keinen Ausweg. Aber bewegt sich nicht von der Stelle. Dadurch wird er wütend und seine Augen verengen sich.
„Ich habe mit dir gesprochen“ fährt er sie harsch an. Sie reagiert nicht. Mit drei großen Schritten ist er bei ihr und zieht sie an ihren langen blonden Haaren vom Boden hoch. Sie gibt keinen Mucks von sich. Plötzlich nimmt er ihren Arm, reißt ihn ihr auf den Rücken und dreht ihn dort noch weiter. Aber sie gibt immer noch keinen Laut von sich.

Warum schreist du nicht? Warum wehrst du dich nicht? Warum läufst du nicht weg? Sie alle haben recht, nicht wahr? Du bist zu nichts zu gebrauchen und die personifizierte Blödheit!

Mit einer Hand noch immer an den Haaren ziehend und mit der anderen ihren Arm am Rücken festhaltend zieht er sie mit sich in das Badezimmer, am Ende des Flures. Er schließt die Tür hinter sich ab.
„Los! Zieh deine Hose aus!“, befiehlt er ihr.
Sie zittert.
„Bist du selbst für die einfachsten Dinge nicht zu gebrauchen?“, schreit er sie an.
Papa schläft im Raum nebenan, denkt sie. Er darf nicht so laut sein, sonst merkt Papa was. Mama ist zum Glück einkaufen. Ich muss noch Hausaufgaben machen, sonst bekomme ich wieder Ärger. Wenn ich groß bin, werde ich bestimmt Tierärztin. Muss man da auch mit Insekten arbeiten? Ich mag keine Insekten. Vielleicht kann ich an meine Praxistür schreiben, dass ich nur Hunde und Katzen behandeln werde? Ist ja dann schließlich meine eigene Praxis.

Zack! Er hat ihr die Hose runter gerissen und drückt sie brutal auf den Boden.

Plötzlich ist sie auf einer großen Wolke. Es fühlt sich an, als liefe sie auf Zuckerwatte. Sie hat ihre beste Freundin bei sich, mit der sie lachend über die Zuckerwattehügel hüpft. Die Sonne scheint warm auf ihrer Haut und sie trägt ein wunderschönes Sommerkleidchen.
„Schau mal da drüben! Siehst du das rosa Pferdchen?“, ruft ihre Freundin. Völlig begeistert laufen die beiden Freundinnen auf das Pferdchen zu.
„Es hat ja sogar Flügel!“, realisiert sie begeistert, als sie ihm näher gekommen sind.
„Meinst du, wir können uns darauf setzen?“, wundert sich die Freundin.
„Lass es uns einfach mal probieren. Wenn es uns nicht mag, landen wir ja einfach in den Zuckerwattehügeln und die tun uns bestimmt nicht weh.“
Freudig hopsen sie auf das rosa Pferdchen mit den Flügeln und sofort hebt es ab. Sie fliegen immer höher hinaus und immer weiter fort von den Zuckerwattehügeln in Richtung des Regenbogens, welchen sie zuvor gar nicht wahrgenommen hatten. Auf der höchsten Stelle des Regenbogens landet das rosa Pferdchen und geht in die Knie, damit die beiden Freundinnen problemlos absteigen können.
„Ist das schön hier! Es glitzert hier überall! Und guck mal dort drüben, da rutschen Kinder den Regenbogen herunter. Das wird bestimmt Spaß machen!“
Hand in Hand laufen die Mädchen zu den anderen Kindern und fragen, ob sie mit ihnen rutschen dürfen. Diese freuen sich über noch mehr Spielgefährten und nehmen sie sofort in ihre Runde auf. Freudestrahlend rutschen die Kinder den Regenbogen hinab. Mal allein. Mal mit anderen zusammen. Dabei jauchzen sie vor lauter Freude, während um sie herum Schmetterlinge tanzen. Irgendwann rutscht das Mädchen auch alleine. Erst ist es noch genauso freudig wie zuvor mit den anderen Kindern, aber um sie herum ist plötzlich alles so ruhig. Sie hört kein Kinderlachen mehr. Es fliegen keine Schmetterlinge mehr um sie herum. Der Himmel ist stark bewölkt und erste Tropfen fallen vom Himmel. Ihr Mund tut weh.

„Mach deinen scheiß Mund auf und schluck gefälligst, was man dir sagt!“, schreit er sie an. Sie fühlt nur etwas großes, Ekliges in ihrem Mund. Er stöhnt. Das eklige Ding ist weg. Er drückt ihren Mund zu. Sie muss schlucken. Er tritt sie und mit einem dreckigen Lachen befiehlt er ihr, sich anzuziehen.
„Wenn du irgendjemandem was erzählst, bringe ich dich um. Hast du mich verstanden?“
Sie nickt und er schickt sie in ihr Zimmer, wobei er ihr hinterher ruft, dass sie eine unnütze, dreckige Schlampe sei.

Sie glaubt ihm.

Im Zimmer sitzt sie angespannt da und ekelt sich vor sich selbst. Ihr tut alles weh. Sie darf nicht duschen und sich nicht die Zähne putzen, denn das würde auffallen. Sowas darf man nur am Abend machen, so wie ihr es beigebracht wurde. Sie weiß, dass ihr Bruder sie dafür bestrafen würde, wenn sie jetzt Duschen ginge. Das hat sie schon mal probiert und hatte anschließend noch viel schlimmere Schmerzen, als sonst.

Siehst du? Du hast es wieder zugelassen, dass er sowas mit dir macht! Du bist ein Schwächling! Ein ekelhafter, dreckiger Schwächling! Zu nichts zu gebrauchen! Es ist ein Wunder, dass du allein essen und auf Toilette gehen kannst. Deine Eltern hätten dich besser abgetrieben! Der ganzen Welt wäre damit diese Schande erspart worden. Du bist ein Nichts! Ein Niemand! Wann kapierst du das endlich?

Sie zieht ihre Schuhe an.

Ja! Weglaufen! Das kriegst du hin? Denkst du, es interessiert irgendjemanden, wo du bist?

Sie zieht ihre Jacke an.

Du brauchst dich nicht vor der Kälte schützen. Es ist egal, ob du krank wirst. Das zeigt nur wieder, wie schwach du bist.

Sie verlässt das Haus und schließt die Tür leise hinter sich zu.

Es hat angefangen zu dämmern, aber das bemerkt sie nicht. Sie hat nur ein Ziel vor Augen: Die Bahnbrücke, gegenüber ihres Elternhauses. Jeder Körperteil schmerzt und jeder Schritt macht es schlimmer. Aber es ist ihr jetzt egal. Alles ist ihr jetzt egal.

Was willst du machen? Wie ein Feigling von der Brücke springen? Du bist doch selber schuld! Wie oft muss ich dir das noch sagen? Aber mach ruhig! Anschließend ist die Welt wieder ein friedlicher Ort. Glaub mir!

Sie steigt auf das Brückengeländer. Eine frische Brise streicht ihr durch das Gesicht und sie schaut nach oben.
Vielleicht kann ich auch im Himmel Tierärztin werden. Vielleicht habe ich dort keine Schmerzen mehr, denkt sie.
Und springt.