Nachgesang

Bild von Annelie Kelch
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Und ich sah einen neuen Himmel und
eine neue Erde; denn der erste Himmel
und die erste Erde sind vergangen, und
das Meer ist nicht mehr.
(...)
Und der auf dem Thron saß, sprach:
Siehe, ich mache alles neu.
(Jesus in „Die Offenbarung des Johannes“,
21 und 21,5, Neues Testament)

Es ist so unheimlich hier, Blue, öde und kalt.
Ich kann diesen rostigen Staub nicht mehr sehn,
diese blutrote Erde überall – als fände tagtäglich ein Gemetzel
unter uns statt, als hätten wir ein Massaker angerichtet,
ein ganzes Volk ausgelöscht ...

Wir sind nur mehr ein halb erfrorenes knappes Dutzend,
ein hungriges Rudel Wölfe, und im Sterben begriffen wie
die Hoffnung.

Seit Rotes Riesenmonster zum Weißen Zwerg verkommt,
wird die Kälte von Tag zu Tag strenger.

Ich nannte dich von Anfang an Oceanos, weißt du noch, Blue ...

Aus den morgenfrühen Nebeln um Twin Peaks strömen
Ozeane, Flüsse und Seen, quälen mein bang gewordenes Herz
und wecken den längst vergrabenen Traum vom unendlichen Meer,
das sommersatt unterm Silbermond ruht, kühn den Müll von Atomen verbirgt,
das Gift dumpfer Städte frisst, den Sud fremder Frachter säuft.

Mein verlorenes Herbstparadies,
maßlos spröde unterm Möwengekreisch,
spieh grollend Kot und Morast.

Lang ehe das brodelnde Killergewölk gen Himmel kroch, Blue,
vernahmen Gelehrte und Dichter die panische Angst im Gurren der Tauben;
und überaus furchtsam sollen geklungen haben die sonst eher
trägen Rufe der Eulen, gebrochen das Krähen der Hähne,
wie Säuglingsgewimmer das Summen im Bienenvolk ...

Es ist so entsetzlich kalt hier, Blue.
Ich nannte dich von jeher Oceanos ...
Wir sind schon halb tot.

Ich vermisse das leuchtende Gelb der Hundeblume,
den Gesang der Vögel.

Wir leben in Höhlen wie Tiere und kriechen in Demut geübt zu Kreuze.
Wir tragen die Lumpen unserer Toten, vermummt bis zur Unkenntlichkeit.
Wir kennen einander wie Rose und Dorn und lecken den Roten Staub.
Wir streuen dem Hunger Sand in die Augen
und würfeln mit Lavageröll um den letzten spärlichen
Wildwuchs: Flechten, Moosfarn und Bärlapp.

Als wärmere Zeiten herrschten,
wanderten wir von Pol zu Pol und verzehrten
Insekten, Käfer und Würmer (einige schmeckten abscheulich).

Manche Flusstäler freilich führen noch (eisiges) Wasser.
Wir erwarten den Tod und hoffen auf Regen, obwohl
das Eis nicht mehr taut und der Blutschnee gefriert
wie unser Atem.

Ich nannte dich Oceanos, Blue ...
Einst lebten wir friedlich am großen Elbestrom.
Unser Nest lag im Wiesenschaumkraut,
zwischen Sumpfdotter und Lattich.
Wir atmeten Ebbe und Flut,
den Duft von üppigem Wildwuchs,
das Fernweh der stationierten Matrosen,
die Angst der Fische.
Einst lebten wir, Blue ...

Es wird von Tag zu Tag finsterer hier.
Deimos und Phobos, die trüben Mondkartoffeln, sind gänzlich verloschen ‑
wie die Erinnerung an das Lachen unserer Kinder.

Zur Geisterstunde steigt aus den Canyons (wo unsere Toten liegen)
ein hymnischer Chorgesang und weht uns an wie der frostige Odem
des schwarzen Gevatters:

Cantico delle creature ...
Cantico di frate sol …(wir hörten es alle).

Was soll uns dein Sonnengesang, Franz. Gott ist verglüht!

Es ist schrecklich kalt hier, Blue.
Es wird von Tag zu Tag finsterer.
Ich nannte dich Oceanos ...
Wir haben trotz allem gerne gelebt.
Ich gäb was darum, könnte ich dich einmal noch wiedersehn.

Twin Peaks, Red Planet (Mars), etliche Jahre nach dem Kollaps
* (wir zählen nicht mehr)

Das Leben auf dem Mars - nach dem Kollaps (Weltuntergang)