Lebenskünstler M: Vorrecht des Wissenden

Bild von Klaus Mattes
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Die Stadt hat nur dieses eine Lokal.

Dennoch eher ein Fehler, hier zu sein. Ein Fehler, ohne Frage, zu sitzen statt zu stehen, an einem Tisch vorn beim Eingang und gegenüber den Toiletten, gelümmelt in einen der Rattanstühle, hier zu sitzen an einem Tisch! Hier hält man sich fest an der Theke, dafür stehen die Hocker. Sind alle Hocker vergeben, an den Wochenenden, setzt man sich nicht an Tische, sondern bleibt stehen, den Arm gelegt, zumindest zur Begrüßung, um die Schultern auf Hockern standhaft Verweilender. Man trinkt Bier, würfelt mit dem Wirt und schraubt am Automaten in der Ecke. Zur Toilette geht man einzeln. Wenn sie leer ist. Auf dem Weg sieht man keinem ins Gesicht. Ganz bestimmt nicht jenen, die hocken an Tischen bei den Toiletten.

Ich trinke mein Bier. Der Wirt, Hans, ein Graukopf mit Bleistiftbärtchen, hat mir beim Reinkommen die Hand geschüttelt.
„Auch mal wieder hier? Wie geht’s denn?“ „Ach ja. Man lebt.“ „Was darf ich bringen?“ „Pils.“ „Ein Pils. Ja. Mach ich dir. Gern. Wird besorgt.“

Ich muss die Zeit bis zum ersten Schluck überstehen, ohne mir eine Zigarette anzustecken. Normal vier Minuten, jetzt aber dauert’s länger, Vorrang hat die Runde Hütchen, die Hans unter die Würfelnden wirft.
„So! Ein Pils für dich. Wohlsein auch.“
„Danke.“

Dieser säuerliche Bleistift mag mich kein Stück, Illusion wäre zwecklos. Aber neuerdings, ich konzediere es mit Verwunderung, lässt er mir eine Art Herzlichkeit angedeihen. Wer ihn kennt, weiß, was ich meine. Das liegt daran, dass man hier nicht weiß, wie man mich einordnen soll. Bin ich ein wenig nachgefragter Single mit Brille und Bauch, Anfang dreißig, kaum verklemmter oder abgehakter als alle von so einer Anmutung? Bin ich einer, vor dem man auf der Hut ist?

Bisher hat man mich mit der Gruppe kommen sehen. In jener Gesellschaft habe ich an diesen Tischen gesessen und bin ich gegangen. Immer mit den Letzten dieser Tischgesellschaft. Niemals war ich allein im Lokal. Ich habe gegrüßt, meist so ungefähr ins Blaue, manchmal gar nicht. Geredet habe ich mit keinem von allen, die man hier drin kennt.

Ganz bestimmt, denke ich, sitze ich hier vorn, weil hinten, wo es ebenso leer gewesen war wie hier vorn bei der Tür zum Klo, die Gruppe ständig gesessen hat. Mitten drin auch immer ich. Von heute an wird man mich allein sitzen, Bier trinken sehen und sitzen im Rattan! Jedoch nicht stehen oder hocken auf einem jener Hocker, denke ich. Der Wirt, Hans, denke ich, der weiß, dass ich nicht Gruppenchef bin, Chef niemals war. Gedacht hat man es, weil ich so alt war und gelehrt gewirkt habe. Dort hinten im Kreis.

Den Georgios kennt Hans vom Schaffen her. Immer war Georgios ihm der Wichtigste. Hans wusste schon immer, wer der Chef von uns gewesen ist. Aber, der Chef ist weg. Die Zeitschrift, das Blättchen, das wir alle Monate gebracht haben, worin dieser knöchrige Wirt oft inseriert hatte, wahrscheinlich hätten wir ein Hohelied auf so eine entsetzliche Kneipe singen müssen, denke ich. Das alles ist tot und vorbei. Aber Hans, der Wirt, weiß es noch nicht. Das weiß keiner hier außer mir, den man respektvoll noch grüßt, vorsichtshalber und vorerst grade noch. Zum Ende wird Hans mir also die Tür aufhalten und krähen: „Komm ja gut heim, du!“ Dabei kennt der meinen Namen nicht einmal, der Hans, dieser graue Bleistift.

Ich bin nicht gekommen, weil ich gehofft hätte, Freunde zu treffen. Hier beim Klo sitze ich nicht und paffe meine Zigaretten, trinke mein Bier in kleinen Schlucken, bis die Bettschwere kommt, weil ich rechnen würde mit Bekannten, die hereinschneien könnten, spät nachts an diesen zerquälten Ort. Eher schon, weil ich weiß, dass kein einziger aus der Gruppe hier heute auftauchen wird. Hauptsächlich sitze ich und paffe ich, denke ich, weil es kalt ist und ich im Park oben gefroren habe. Die letzten drei Nächte. Und davor war Kinotag.

Ich schaue mich um und weiß, zwei Stunden werde ich durchhalten, dass alles gleich sein wird, wie es jetzt schon ist. Wenn an einem Ort wie diesem für einen wie mich die kleinste Chance je gegeben war, so nur, wenn er schaffte zu tun, was zuvor er nie tat, was zuvor nicht versucht, unternommen oder geschafft wurde, Männer einfach anzusprechen, als ob dieses der rechte Ort dazu wäre.

Am winterlichen Abend ist das Häufchen der Regulären stark gerupft und unvollständig. Hinten im Eck an der Schmalseite der Theke finden sie alle Platz zwischen den dunkel gebeiztem Eckpfeilern und dem Spielautomat. Hans beugt sich vor und würfelt. An der Schmalseite zum Klo ist noch ein dubioser Fremder zu erkennen, Pilstrinker auch er. An der langen Front der Theke nur ein einziges Wesen. Von meinem Tisch her könnte ich es mit meiner Hand angreifen.

Jedoch hat das Wesen die Gestalt eines Sacks, stützt trist seinen Kopf mit beiden Armen und Leid tut sich’s, wie ich mir selber in meinem schweren Leben noch nie leidgetan habe. An der Oberseite seines hoffnungslos gewiegten Kopfes hat dieses Wesen eine hellbraune Wucherung. Eine Afro-Krause fast, würde ich schreiben wollen, falls jemand Su Kramer heute noch kennt. Bei weiterer Musterung zerfällt, was zu Beginn wie ein Sack erschien, in dunkelblaues Sweatshirt, verwaschene Jeans sowie türkisfarbene Plastik-Skistiefel. Nun ja, ist Winter draußen, wenn auch weit und breit kein Schnee.

Zwischen dunkler Krause und Sack hat das Wesen eine Gesichtshaut, die recht bemerkenswert ist, makellos und zart wie im Juli der errötende Pfirsich. Wen auf Altersbestimmung man festnageln täte: „Dann schätz einfach!“, würde sich aus der Affäre ziehen: „Na ja, in den Zwanzigern wohl...“ Ohne Geschlecht ist das Wesen, Sack mehr denn Mann oder Weib. Da buchtet sich allerlei, überall, nirgendwo sagt es was. Immerhin weiß man, wo oben und unten ist, oben nämlich die Krause und unten die Türkis-Treter.

Links der Unbekannte, das sticht mir ins Auge, ist so fehl am Platze hier drinnen wie ich, scheint das nicht zu verstehen oder sich nicht zu sorgen. Er ist nicht ganz so alt wie ich, knappe Dreißig, nehme ich an. Trägt dunklen Anzug mit Einstecktuch, ein weiteres Tuch um seinen Hals gewunden, Ring mit schwarzem Stein an seiner Rechten. Welch Aufzug in dieser Hütte, könnte

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