Eine Schreibaufgabe in Sachen Erinnerungsarbeit

Bild von Sibille Schäfer
Bibliothek

Sie trafen sich in einem Café in ihrem Wohnort. Ihre Gesprächspartnerin hatte Zeitungsausschnitte mitgebracht: Nachrufe auf SEINE Frau, die neben ihm auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, als er den schweren Unfall verursachte, bei dem sie beide ums Leben kamen. Offensichtlich hatte er das Stoppschild übersehen und war ungebremst aus einer Seitenstraße auf eine stark befahrene Landstraße gefahren – sein Wagen rauschte mitten in den Querverkehr und wurde fast synchron von beiden Seiten gerammt. ER und seine Frau starben noch am Unfallort.

SIE hatte erst vier Tage nach dem Unfall die Todesnachricht erhalten. Die Frau, die ihr nun im Café gegenüber saß, war seit vielen Jahren mit der Familie befreundet und die einzige Person aus seinem Freundes – und Bekanntenkreis, die sich nach langem Zögern zu einem Gespräch bereit erklärt hatte. Sie habe vorher eine geschlagene Stunde vor dem Grab gestanden und sich erst danach in der Lage gesehen, mit IHR zu reden.

SIE war die verwaiste Geliebte – eine verfemte Person. Aber das wusste ihr Gegenüber nicht – für diese Frau war sie nur eine flüchtige Bekannte, die seine Interessen geteilt hatte. Und sie hütete sich, allzu viel von dieser Freundschaft preiszugeben, die über mehr als zwölf Jahre der Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens gewesen war.

Umso gesprächiger war ihr Gegenüber – nach eigenem Bekunden eine „uralte Freundin der Familie“. Sie erzählte, wie lange sie die Verstorbenen gekannt hatte und gab ihr schliesslich einen Brief zu lesen, den ER vor einigen Jahren an sie geschrieben hatte - mit der Anmerkung: „Diesen Brief kennt noch nicht einmal mein Mann“.
In diesem Brief dankte der Verfasser der Adressatin für ihre treue und langjährige Freundschaft und schloss mit den Worten: „Wir lieben einander, aber wir begehren uns nicht.“
SIE wusste, unter welchen Umständen dieser Brief entstanden war: auf einem Seminar, in dem es um das Thema „Sterben und Tod“ ging, sollten die Teilnehmer einen Abschiedsbrief an eine ihnen nahestehende Person schreiben, die aber kein Familienmitglied sein sollte. Er sagte IHR später, er hätte eigentlich lieber an SIE geschrieben – aber das wäre ja nicht möglich gewesen.....

„... wir lieben einander, aber wir begehren uns nicht...“ „Wenn DU wüsstest...“ dachte sie und erinnerte sich an die leidenschaftlichen Telefonate die sie während seiner letzten Auslandsreise mit einander geführt hatten - spät abends, wenn er in seinem Hotelzimmer auf dem Bett lag – das war rund drei Wochen vor seinem Tod gewesen.
Und sie erinnerte sich an seine letzte Mail an sie – zwei Tage vor dem Unfall – nur drei Sätze, vibrierend von Sehnsucht, Leidenschaft und Verlangen....

„Wenn DU wüsstest....“
Sie blieb äußerlich ruhig, nickte freundlich, schaute aufmerksam drein – jeder Zoll die wohlerzogene Zuhörerin. Nach zwei Stunden freundlicher Konversation verabschiedete sich die gut situierte Dame. Sie habe ihren Frieden gemacht mit dem Tod ihrer Freunde, sagte sie zum Abschied. Und erteilte IHR den gut gemeinten Rat, sein Grab in Zukunft nicht mehr zu besuchen und sich von seinem Porträt zu trennen.
„Sonst werden Sie keinen Frieden finden....“

SIE hatte sich Trost erhofft durch dieses Gespräch. Immerhin war diese Dame ein Mensch, der IHN persönlich gekannt hatte. Aber statt dessen fühlte sie sich NOCH elender als vorher.
Spät nachts, als sie auf der Treppe vor ihrer Haustür saß, eine Zigarette nach der anderen rauchte und in den Nachthimmel starrte, verwandelte sich ihre Traurigkeit in unbändigen Zorn.

NEIN! NEIN! UND NOCHMALS NEIN!
Dieses wohlanständige bürgerliche Milieu, in dem es zu guten Ton gehörte, sich die elementarsten Gefühlsregungen auf Armeslänge vom Leibe zu halten – sie sorgfältig einzuhegen, in Schublädchen und Schächtelchen zu verpacken und nur zu besonderen Anlässen wieder hervorzuholen, sie blank zu putzen, auf die Vitrine zu stellen um sie nach einer angemessenen Zeit wieder zu verstauen – DAS war nicht ihre Welt!

Diese gesellschaftlich verordnete Coolness und Wohltemperiertheit – während andere vor die Hunde gingen...

SIE war selber in einer gut bürgerlichen Familie aufgewachsen und erinnerte sich noch sehr gut daran, wie Ihre Mutter nach dem Tod ihres Mannes sämtliche Gefühlsregungen unterdrückt hatte... sie hatte ihre Mutter niemals weinen sehen -obwohl ihre Eltern eigentlich eine gute Ehe geführt hatten.
„Man serviert seinen Kummer nicht herum“, pflegte ihre Mutter zu sagen. Das war eine ihrer Lieblingsredensarten gewesen. Andere lauteten: „Liebenskummer ist gekränkte Eitelkeit“ und „Das Zeigen von Gefühlen macht dich verwundbar – tu es NIEMALS – nicht einmal deinen Freunden gegenüber – sie würden deine Schwäche sofort ausnutzen....“
Sie fröstelte bei diesen Erinnerungen obwohl es eine laue Sommernacht war.
Jetzt – 50 Jahre nach dem Tod ihres Vaters und 10 Monate nach dem Tod ihres Geliebten wusste sie: SO kann ich nicht leben – und so WILL ich nicht leben.

In dieser Nacht fiel die letzte Tür zur brav-bürgerlichen Gesellschaft endgültig und mit einem lauten Krachen hinter ihr ins Schloss.

Dieser Text ist ursprünglich entstanden auf der Feministischen Herbstakademie der Rosa-Luxemburg-Stiftung, vom 27. 10. bis zum 29.10. 2017
im Rahmen eines Workshops zum Thema „Erinnerungsarbeit“
Die Aufgabe lautete: " Schreibe über ein Erlebnis, das Dich zu dem Entschluss veranlasst hat
“Zu dieser Gruppe kann/will ich nicht mehr gehören.“
Schreibe möglichst sachlich und benutze wenn Du von dir sprichst AUSSCHLIESSLICH die Dritte Person Singular. Nenne Deinen Namen nicht,denn die Verfasserin des Textes soll anonym bleiben. "

Interne Verweise