Sobald du stirbst, kehrst du zurück

Bild von Giulia
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Flatternd huschten die Punkte am dunklen Horizont entlang. Schienen sich von Stern zu Stern zu hangeln, verwischten zu einem langen Streifen als der Zahn der Zeit sich beschleunigte. Aus dem weichen Tanz der Äste am Baum wurde ein nervöses Zucken, ein Flattern pflanzlicher Tentakeln hinter dem sich der Himmel begann zu drehen. Oder war es doch die Erde, welche einen Anstoß von unbekannter Kraft bekam?
Die Zeiger der Uhr drehten ihre Runden, das Uhrwerk verhakte sich ineinander, sodass die Zeit über die Wand hinab auf den Küchenboden floss. Viel zu schnell, viel zu rasend, unaufhaltsam.
Obgleich die Stille sich gleich einer Staubschicht in der ganzen Wohnung niederließ, hatte sie die Einsamkeit vor der Tür gelassen um es sich allein gemütlich zu machen. Elias‘ Atem legte sich in der Dunkelheit auf die Fensterscheibe, ließ kurz die Welt wie eine diffuse Erscheinung im Nebel wirken, ehe die Sicht wieder klarer wurde. Er konnte spüren wie Raum und Zeit an ihm zerrten. Ein buntes Schwingen der Atome, die sich gegenseitig anstießen. Quantensprünge, und abertausend Möglichkeiten, die Realität werden konnten bis man sich für eine Entschied. Schrödingers Katze mauzte vor der Tür.
Die hellblauen Augen fokussierten den Horizont, nahmen die zuckenden Tentakeln am Baum war, registrierten die rasenden Flugzeuge am Firmament. Für ihn lief heute alles anders als normal, dennoch kam die Angst nicht auf, die er eigentlich erwartete. Ruhig stellte Elias die Tasse auf das Fensterbrett, ließ den Blick abwesend auf dem hellen Porzellan ruhen, ehe er mit einem Wisch die Tasse auf den Boden beförderte. Das zu Erwartende scheppern aufschlagenden Porzellans auf Fliesen blieb aus. Stattdessen stoben die Scherben auseinander, ergoss sich die Flüssigkeit auf dem Boden um sich Sekunden später wieder zusammenzufügen. Die Zeit begann rückwärts zu laufen. Wie an einem unsichtbaren Faden gezogen fand sich die Tasse wieder auf dem Fensterbrett ein. Elias fuhr sich über die trockenen Lippen. Er hätte nicht gedacht, dass es so amüsant werden kann auf den Tod zu warten.
Ein Blick auf die Uhr über deren Ziffernblatt ein Schatten huschte, sagte ihm, es wäre Zeit sich schlafen zu legen. Kurz kam Widerstreben auf. Konnte er das Unvermeidbare vermeiden, wenn er sich dem Schlaf verweigerte und wach blieb? Theoretisch gehörte es in die Quantenphysik, solang er sich nicht entschied, würde beides möglich sein. Er könnte sterben oder nicht. Schrödingers Katze stimmte erneuert ihr schiefes Lied an. Nein, irgendjemand legte fest, dass sein Weg heute Nacht endete. Der Tod würde kaum riskieren können, dass jemand die sonderbaren Zeichen, selbst reparierende Tassen und rasende Uhrzeiger, weitererzählte, weil er sie überlebte. Und schlussendlich wusste Elias auch nicht mehr, mit seinen 80 Jahren, was ihn auf diesen Planeten noch halten sollte, außer seine Angst davor nicht mehr existent zu sein. Aber was war das für eine Angst? Eine diffuse Angst, die er sich selbst von Kindesbeinen auf an einimpfte. Zeitgleich wurde er im Laufe seines Lebens zu einem Menschen, der gern die Dinge auf sich zukommen ließ. Vorurteilsfrei und unbefangen.

Das Bett knarzte leise unter dem Gewicht als die Matratze nachgab. Elias legte sich auf den Rücken, drehte sich kurz auf die Seite um die Vorhänge zur Seite ziehen zu können. Hell, unnatürlich hell, ergoss sich das Licht des Mondes durch das Fenster, warf eine silbrige Schneise in die Dunkelheit.
Der Bilderrahmen klapperte leise als Elias diesen vom Nachttisch nahm. Seine Frau funkelte ihn mit freudigen Blick an. Schon lang vor ihm war sie diesen Weg gegangen; nun musste er allein damit fertig werden. Kurz das Bild tätschelnd, stellte Elias den hölzernen Rahmen wieder auf den Nachttisch, legte sich auf den Rücken, bettete seinen Kopf in das Kissen und zog sich die Decke bis an das Kinn. Zunächst wollte er die Hände mit ineinander verschränkten Fingern auf seinen Bauch legen, kam sich dabei aber sehr albern vor, warf sich auf die Seite und erstarrte. Vor seinem Bett stand ein Junge, an die zehn Jahre alt, griff seine Hand, tätschelte diese leicht und lächelte ihm zu. Was für eine Absonderlichkeit sich selbst als Kind zu sehen. Mit weit aufgerissenen Augen erstarrte der alte Mann in seinem Bett, vergaß beinahe das Atmen, spürte das Rauschen des Blutes in seinen Ohren und mit ein Mal wurde ihm das Leben so bewusst, dass er sich mit aller Macht gegen das Unvermeidbare wehren wollte. Der Impuls sich aus dem Bett zu strampeln, aufzuspringen, aus dem Haus zu rennen, zerriss ihn innerlich und das als das Zucken der Muskeln begann verräterisch zu werden, trat eine zweite Gestalt neben das Bett, drückte dem Jungen kurz die Schulter, aufmunternd, zusprechend, sodass jener sich vom Bett abwendete um in der Dunkelheit zu verschwinden. Mit rasselnden Atem beobachtete Elias wie sich der Mann, Mitte 30 Jahre musste er sein, auf die Bettkante niederließ. Was wollte der Jungspund ihm bitte sagen? Wie toll der Tod sein konnte? Panisch, mit ängstlichen Blick, sah Elias hinauf in die randlos schwarzen Augen des Mannes, klammerte sich an solch materiellen Dingen wie das Kissen und die Bettdecke fest.
Der junge Mann beugte sich langsam hinab, strich mit einer Hand über das lichte Haar von Elias. „Darf ich mich zunächst vorstellen“, raunte er leise, lüftete seine schwarze Melone, räusperte sich kurz. „Ich bin der Tod.“ Ein kurzes Lächeln huschte über die schmalen Lippen. „Richten Sie sich ruhig etwas auf. Ich denke, dass Ihre Angst unbegründet ist.“ Mit einer seichten Bewegung der Hand lud der Tod Elias ein, es sich doch bequemer zu machen. Unsicher, aber dennoch vollkommen in der Lage der Einladung folge zu leisten, richtete sich Elias auf, wollte nach dem Bild seiner Frau greifen um einen Halt zu finden, doch der Tod legte seine kalten Fingerspitzen auf Elias Handgelenk, schüttelte warm lächelnd den Kopf. „Nein, Elias. Das brauchst du nicht mehr.“
„Bin ich schon Tod?“, fragte der Ältere leise. Seine Stimme schien nicht mehr als ein Hauch zu sein. Die Begegnung ängstigte und fesselte ihn zugleich.
„Nein, ganz im Gegenteil Elias ... ganz im Gegenteil.“ Der Tod überschlug die Beine, lockerte etwas die schwarze Krawatte und bettete seine Hände in den Schoß. „Wir wollen nichts überstürzen.“
„Ich habe so viele Fragen ...“
„... deren Antworten du bekommen wirst, wenn die Zeit gekommen ist.“ Ein freundliches Lächeln folgte den Worten, die Elias diffus entgegenschwebten. Er konnte nicht mal sagen, ob sie wirklich miteinander sprachen oder er die Stimme seines in einen noblen Anzug gekleideten Gegenübers nur im Kopf vernahm.
„Wie geht es dir, Elias?“, fragte der Tod anschließend, zog sich einen großen schwarzen Schirm heran, bettete die Hände auf den Knauf und bekam dadurch ein weltmännisches Aussehen.
„Ich...“ Elias schwieg. Er wollte sagen, dass er Angst bekam vor der unbekannten Begegnung, jedoch war dort in seinem Herzen keine Angst mehr; nichts, außer ... Glück. Eine Absurdität, die seine Augen sich weiten ließen und der Tod begann wissend zu lächeln als wüsste er ganz genau, dass diese Reaktion kommen musste. „...bin glücklich.“
„Mmmhmmm ... nicht so schlimm, zu sterben, was?“ Belustigt schwang die Stimme des jungen Mannes in seinem Kopf. Er nahm die schwarze Melone, hängte sich über den Knauf des Schirmes und ließ jenen Kreisen, sodass die Kopfbedeckung begann zu schwingen. Gebannt beobachtete Elias die Bewegung der beiden Gegenstände, schwenkte den Blick nach oben, sah direkt in die schwarzen Augen des Todes und atmete tief durch. Dass dies sein letzter Atemzug war, bekam der alte Mann gar nicht mehr mit.
„Komm‘ ruhig etwas näher.“ Elias beugte sich nach vorne. „Du wirst in dieser Welt ein Neuankömmling sein, aber du wirst nicht aufgeben deinen Platz zu finden, denn du bist voll mit Glück. Mit dem Glück, das du hier“, er tippte auf die Stelle, in der Elias Herz einst schlug, „spürst. Es verrichtet seine Arbeit nicht mehr...“
„Bin ich tot?“, fuhr Elias ihm dazwischen.
„Der Blick in meine Augen ist ein Blick, der dich tötet.“ Ruhig richtete der Tod sich etwas auf als Elias scheinbar nach Luft schnappte, während seine Fingerspitzen panisch über den Bezug des Bettes huschten, ihn jedoch nicht mehr wirklich spüren konnten.
„Es wird weniger ... ich verliere den Bezug zur Welt ...“, stotterte Elias und sah den Tod mit offenen Augen an.
Der junge Mann stellte den Schirm zur Seite. „Komm ruhig etwas näher, wenn du magst, während du stirbst. Lass deine Seele ziehen, wenn du magst und spreche mit mir, egal, was dir in den Sinn kommt und weine oder lache, wie es dir beliebt, während du stirbst.“ Nach anfänglichem Zögern reckte Elias seine Arme, zog sich an den Brustkorb des Todes und schmiegte gleich einem kleinen Kind sich in die kalten und doch wärmenden Arme. „Mach‘ all das, wonach dir ist, wenn du stirbst.“
Elias schloss die Augen. Er spürte das Bett nicht mehr, auf dem er saß; fühlte keinen kühlen Windhauch der Nacht. Der Tod griff seine Melone, setzte sich diese auf den Kopf, nahm den schwarzen Regenschirm, öffnete jenen und schwang ihn elegant über ihre Köpfe bis nichts mehr an die Begegnung erinnerte außer der Körper eines Mannes, der seinen ewigen Frieden gefunden hatte. Der Wind schob sich an dem Vorhang vorbei, flüsterte leise und wenn man ihn verstand hörte man ihn sagen:“Wenn du stirbst, kehrst du zurück.“

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