Das Zeichen - Page 2

Bild von Annelie Kelch
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die kurzes, struppiges Bisongras trugen.

Als wir sechs Zusagen so gut wie unter Dach und Fach hatten, wollte Stevie umkehren ‑ wir näherten uns derweil Pahaska Tepee ‑, aber ich hatte Blut geleckt und überredete ihn weiter­zufahren ‑ was mich heute noch reut ‑, obwohl die Gegend zu­nehmend öder und menschenverlassener wurde. Wyoming ver­fügt über endlose Weiten, müssen Sie wissen. Man kann tage­lang durch ein Tal wandern, ohne einer Menschenseele zu be­gegnen. Wir saßen nach einer kurzen Rast gerade mal fünf Minuten auf unseren Sätteln, als linker Hand - als habe Wakan Tanka, der Große Geist der Sioux, sie dorthin gezaubert - eine Farm auftauchte, die nicht nur extrem heruntergewirtschaftet war, sondern obendrein einen derart bestialischen Mief ver­strömte, dass ich zügig vorbeiradeln wollte, aber Stevie sagte: „Lass uns mal nachschauen, was dort los ist, Oliver, das könnte die Umweltbehörde in Cody interessieren.“ Wir lehnten unsere bikes an den verrotteten Zaun, der einen verwahrlosten Garten mit hüfthohem Gras und einen vermüllten Vorhof von der Straße abgrenzte, und betraten zögernd das Grundstück. Das marode Farmhaus wirkte im glühenden Sonnenlicht wie ein ausgebliche­ner Riesenzuber. Sein tief heruntergezogenes, lückenhaftes Dach war mit grauen Schindeln bedeckt und unter den von Staub und Schmutz getrübten Fensterscheiben befand sich kein einziges, das nicht zerbrochen war. Vor dem Tor einer verfallenen Scheune stand ein rostiger Pick-up, auf dessen Ladefläche sich prall gefüllte Plastiksäcke stapelten, aus denen Abfall quoll, der zum Himmel stank. Es roch ekelhaft nach verdorbenem Fisch, und wir dachten zuerst, hier züchte jemand Bären, die mit Fischen gefüttert würden, bis wir die mannshohe Weißdornhecke neben der Veranda entdeckten. Sie war das Einzige, das an diesem zweifelhaften Ort in Blüte stand, wenngleich sie nicht im mindesten dazu geeignet war, den übel riechenden Dunstschleier, der über der Farm hing, positiv zu beeinflussen. Mich hatte eine unerklärliche Angst gepackt, und Stevies Stimme klang, als erginge es ihm ähnlich. Er rief betont munter: „Oh, prima, ein Windspiel. Das hält die Grizzlys fern, die im Shoshone River ihren Durst stillen und danach auf Ent­deckungsreisen gehen.“ Er deutete auf eine halbwegs intakte Glockendekoration aus Keramik, die unter der verrotteten Ve­randadecke angebracht war.
„Falls es nicht gerade windstill ist“, warf ich feixend ein. Die windstillen Tage in Wyoming konnte man nämlich an zehn Fingern abzählen. Mehr als ein halbes Dutzend im Jahr kamen selten zusammen.
„Ist es doch, Olli“, grinste Stevie, „den ganzen Tag schon. Oder spürst du auch nur den Hauch einer Brise?“ Mir war die Flaute bislang nicht aufgefallen, aber Stevie hatte Recht. Es war windstill. So windstill wie es nur sein konnte. Windstiller konnte es wahrhaftig nicht werden. Die glühend heiße Luft lag über dem weiten Land wie unter einem gigantischen Schirm, der sich aus dem Himmel herabgesenkt hatte, und kämpfte gegen die üble Pestwolke, die von der Farm aufstieg und es einem schwer machte, unbefangen zu atmen. Hinzu kam eine lauernde, beinahe unheimliche Stille ... nicht nur, dass kein einziger Vogel sang und keine Zikade zirpte, noch nicht einmal Mücken schwirrten umher. Wir entdeckten auch keine Ratten, die sich in Milieus wie diesem gemeinhin wie zu Hause fühlen. Es ging etwas Unheilvolles und gleichzeitig Traumverlorenes von diesem Ort aus, was gewiss nicht allein an dem gleißenden Sonnenlicht lag. Der Müll, der, wie schon erwähnt, einen beißenden Geruch verströmte, schien nicht das Einzige zu sein, dass auf diesem Hof faul war. Stevie und ich standen mit hängenden Armen auf dem herrenlosen Terrain herum, als gäbe es nichts auf der Welt, das uns mehr in seinen Bann zöge.
„Man sollte den ganzen Krempel abreißen, bevor noch mehr Leute auf die Idee kommen, ihren Müll hier abzuladen“, brach Stevie endlich unser Schweigen und hielt sich die Nase zu. „Lass uns umkehren, Olli, morgen ist auch noch ein Tag. Wir könnten gegen Abend, wenn es nicht mehr so heiß ist, Richtung Süden unser Glück versuchen.“
Ich stimmte begeistert zu. Südlich von Cody ging es zum Wind River Indian Reservat, und die Chancen standen nicht schlecht, dass uns unterwegs ein paar Shoshonis über den Weg laufen würden.
Stevie hatte schon kehrtgemacht, aber ich stand noch immer wie gelähmt auf derselben Stelle, als fiele es mir unsagbar schwer, meinen Blick von der vermüllten Ruine abwenden, als das Windspiel, wie von Geisterhand angestoßen, plötzlich zu schep­pern begann. Stevie fuhr herum und starrte ungläubig auf die wirbelnden Keramikfiguren, fünf himmelblaue Glockenblumen, die durch einen Dschungel von Spinnweben wild hin und her schwangen, obwohl nicht der kleinste Hauch eines Luftzugs zu spüren war. Wir blickten eine Weile fassungslos auf den rätselhaften Spuk. Die Töne wurden von Mal zu Mal lauter und entwickelten eine Heftigkeit, die die Glockenfiguren unter der Verandadecke toben ließ, als läute Satan Sturm, um einen Bombenangriff anzukünden. Sekunden später dröhnten die Schellen wie zu einer Totenmesse, und noch bevor wir uns von dem Gedonner erholen konnten, erklang plötzlich ein Schluchzen ‑ in einer hohen, kindlichen Frequenz, wie in einem schlechten Horrorfilm. Das Greinen hörte sich künstlich und dermaßen abstoßend an, dass es anstelle von Mitleid pures Entsetzen in uns auslöste.
„Nichts wie weg hier", rief Stevie, der leichenblass geworden war. Wir stürmten zu unseren bikes, sprangen auf die Sättel und rasten davon. Eine Kakophonie von Tönen dröhnte wie Paukenschläge hinter uns her, aber wir wandten uns kein einziges Mal um.
Wir hatten die Farm meines Onkels fast erreicht, als Stevie un­ser beredtes Schweigen brach.
„Da hat eine Brise geweht, Olli“, sagte er mit Nachdruck. „Du, da muss ein Lufthauch gewesen sein.“
„Ein Lufthauch?“, fragte ich zweifelnd. „Weshalb nicht gleich ein Orkan, Stevie? So unbändig wie sich das Windspiel aufgeführt hat.“
Wir blickten uns an und brachen in Gelächter aus, obwohl keinem von uns beiden zum Lachen zumute war, aber das Gewieher befreite uns von dem Unbehagen, das während der Rückfahrt an unseren Herzen genagt hatte, und ich konnte es nicht lassen und witzelte: „Einst hing in Wyoming ein Windspiel, das klimperte munter im Wind viel. Kam ein Grizzly vorbei, biss das Windspiel entzwei; seither ist es dort meistens windstill.“ Stevie wollte sich ausschütten vor Lachen, obwohl ich weiß Gott schon weitaus amüsantere Limericks zum Besten gegeben hatte.
Wir trennten uns

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Kommentare

27. Okt 2016

Ein gutes Zeichen, dieser Text:
Der Leser fühlt sich ganz verhext!

LG Axel

27. Okt 2016

Was? - Ich soll eine Hexe sein?
Das find' ich aber gar nicht fein.
Zwar hab' ich zwei grüne Augen im Kopf,
mitnichten jedoch einen roten Schopf.

LG Annelie

27. Okt 2016

(Leider war es kein Essay -
Mit dem eingebauten Reim auf "Fee" ...

LG Axel)

28. Okt 2016

Und jetzt - jetzt haben wir den Salat...
pardon, ich mein natürlich: Tee
und wünscht mir sehr,
es sei gewesen ein -
E s s a y!

28. Okt 2016

Ganz gleich, welche Kategorie:
Hier Poesie traf Phantasie!

LG Axel

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