Heute

Bild von Monika Laakes
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>Heute<, sagte Roberta >heute verlasse ich dich.<
>Reisende soll man ziehen lassen<, seine lakonische Antwort.
>Klar.<
Ihre Stimme war gereizt. Sie sah ihn eindringlich an. Er schaute durch sie hindurch.
>Klar doch<, betonte sie und fixierte seinen Mund.
>Wann?<
Seine Frage überraschte sie, denn sie meinte, sich deutlich ausgedrückt zu haben.
>Wann?< wiederholte er provozierend.
>Jetzt.<
>Na, dann geh!<
Beide schienen von der Reaktion des anderen überrascht.
Roberta lehnte sich gegen einen Baum. Schaute hoch in die magere Krone. Die nackten Äste griffen in die Höhe, als wollten sie den Himmel erreichen. Die Kälte ließ den Atem zu kleinen Wölkchen gefrieren. Roberta stampfte mit den Füßen auf den harschen Waldboden. Dann streckte sie die Arme hoch und tat so, als sei sie ein zweiter Baum.
Ja, sie wollte den Himmel erreichen. Einmal noch. Vielleicht ein letztes Mal.
>Also, ich gehe fort.<
Sie fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch ihr Stoppelfeldhaar. Rotblondes, dichtes, borstiges Haar.
Moritz umfasste kurz ihre Schultern, zog sie ein wenig zu sich heran. Stieß sie dann heftig gegen den Baumstamm.
>Hau ab!< Seine Stimme überschlug sich. >Hau endlich ab!<
>Auf diese Reaktion habe ich gewartet. Wenn du wüsstest wie lange schon.<
Einförmig ihre Stimme. Das hätte ebenso gut das Programm eines Sprachcomputers abspulen können. Roberta bewegte sich nicht. Dann streckte sie die Arme erneut gen Himmel.
>Die Wahrheit?< fragte er. >Wie sieht die Wahrheit aus?<
Sein athletischer Körper war gespannt. Seine Kiefermuskeln zuckten.
>Die Wahrheit ist alt wie Mann und Frau.<
>Was soll das schon wieder?< fragte er.
>Alles hat seine Zeit.<
>Auch die Liebe?<
>Sie wandelt sich.<
Ihre Stimme war leise geworden.
>Sobald du sie festhalten willst, wird sie dir davonlaufen<, ergänzte sie.
>Was ist Liebe?<
Seine Stimme glich dem Flüstern des Windes.
>Ist sie etwa ein Evolutionsmotor?<
>Das hast du treffend formuliert<, so ihre Antwort als Bestätigung seiner These.
>Ist das alles?<
Er blickte eindringlich in ihr Gesicht.
>Ist das alles?< wiederholte er.
>Was willst du sonst noch?<
Schweigen.
Er hörte ihren Atem. Sie vernahm seine unregelmäßigen, kurzen Atemzüge.
Die Kälte hüllte ihre Köpfe in kleine Atemdampfwölkchen.
Zwei Menschen waren sich sehr nahe. Nahe durch die geplante Distanz.
>Was ist es, das uns glücklich macht?<
Seine Frage. Seine Hilflosigkeit. Seine Ehrlichkeit.
Sein Mut zur Hilflosigkeit. Sein Mut zur Ehrlichkeit.
>Was ist Glück?<
>Heute<, sagte sie, >heute verlasse ich dich.<
Er ging einen Schritt auf sie zu. Ihr Gesicht. Schmal, so filigran wie das Blatt einer weißen Seerose.
Sie lehnte sich gegen den Baum. Ihre Daunenjacke isolierte ihren Körper. Die Rinde war von einer Eiskruste umklammert.
>Heute?<
Er berührte zaghaft ihre Schulter. Schüchtern. So, wie zu Beginn ihrer Beziehung vor zwanzig Jahren.
Sie bewegte sich nicht. Sie lauschte dem Martinshorn des sich nähernden Unfallwagens auf der Straße am Fluss. Anschwellen und Abschwellen des sich wiederholenden Tons. Verschwinden im Dahinfliegen der Geschwindigkeit.
Ruhe. Ihre Augen. Tiefgründig. Groß. Schwarz durch die geweiteten Pupillen.
>Ein letztes Mal?< fragte er.
>Der Klang des Martinshorns<, erwiderte sie. >Flüchtig wie das Glück.<
>Hatten wir es?<
Während er mehr zu sich selbst sprach, rückte er näher an sie heran.
>Hatten wir das Glück?< hakte er unsicher nach.
Seine Augen. Eine Bitte.
>Ja.<
Langsam näherte er sein Gesicht dem ihren.
Wiederum standen sie regungslos. Wange an Wange.
Nichts war mehr da vom Leistungsdruck vergangener Jahre. Nichts mehr, das nach Abstrampeln hiesiger Lustnormen riechen konnte. Nichts mehr, das die ehemals beste Sache der Welt zum Stressfaktor No 1 erheben konnte.
Wange an Wange.
So, wie beim ersten Mal. Im Wald.
Und vorher? Was geschah vorher? Vor zwanzig Jahren?
Gespräche über Nächte. Marathongleich. Keine Erschöpfung. Hellwach am Tage.
Dann im Wald. Wange an Wange.
Da war etwas, das war gespannt wie das Springkraut am Wegrand. Das wollte losbersten. Da war die Ahnung von Etwas. Das war behutsam. Hatte Zeit. Wollte wachsen. Machte atemlos. Machte taumelig. Wollte hoch hinaus.
Da war dieses Etwas.
>Heute ist alles gut<, hörte er sie flüstern.
>Ja.<
Seine Stimme bebte.
Plötzlich schneidender Wind. Ließ die Haut beinahe platzen. Knacken und Ächzen in Stamm und Zweigen des Baums.
>Dank dir für den goldenen Hauch Erinnerung, mein Moritz.<
Sie küsste seine Wange.
Ihre Schritte waren rasch und zielstrebig, als sie sich entfernte.
Er hörte sie singen:

Ich bin die aufreißende Wolkendecke.
Ich bin das Blau dahinter.
Ich bin der aufblitzende Sonnenstrahl.
Ich bin der Grashalm zwischen den Blumen.
Ich bin die Windböe im Januar.
Ich bin Begeisterung am Lebensmorgen.
Ich bin Mühsal und Sterben.
Ich bin Wiedergeburt und Kreislauf.

Was bin ich?
Wer bin ich?
Warum bin ich?
Wozu bin ich?

Ihr Gesang verklang. Moritz lehnte sich gegen den Baum. Der war von einer Eisschicht überzogen. Moritz ritzte mit seinem Daumennagel das Eis, als wolle er den Stamm aus der Umklammerung befreien. Er schabte, bis sein Blut Streifen zog.

Anthologie Freiheit 2005

Interne Verweise

Kommentare

27. Dez 2015

Ein Text, der stark, real ist. Hart!
(Dennoch höchst poetisch. Zart...)

LG Axel

27. Dez 2015

Ein sehr dichter Moment in dem es gelingt, im Abschiedsschmerz einen Teil des Anfangszaubers zu betrachten und den Leser mitfühlen zu lassen. Klasse.

Liebe Grüße

Mara

28. Dez 2015

Hab soeben die Kiste angeworfen. Kann jetzt antworten. Tolle Kommentare. Freu mich sehr!
LG Monika