Die Kunst zu konjugieren - Page 2

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kleines rotes Büchlein hoch: Den Becherelle.
„Zwölftausend Verben, geordnet nach Verbgruppen und den Zeiten. Vom présent bis zum futur antérieur. Alles hier drin!“
Mit der freien Hand klopfte Pater Zoschke auf den Buchdeckel. Dann warf er es einem Schüler auf den Tisch.
„Hier, Junge, frag mich. Wähle eine beliebige Seite, ein beliebiges Verb und eine beliebige Zeit.“
Langsam nahm Ansgar das Buch in die Hand und blätterte unbeholfen dahin herum.
„Na, mach schon, Junge. Wird’s bald!?“
Ansgar nahm seinen ganzen Mut zusammen und formulierte die Aufgabe.
„Äh ... plaire ... subjonctif imparfait ... 1. Plural.“
„ Que nous plussions“, kam es wie aus der Luger geschossen. Um Anerkennung heischend blickte Pater Zoschke sich um. Auch Dominic warf er einen Blick zu, als wolle er sagen: „Nur, dass du’s weißt. Ich bin hier der Chef und alles tanzt nach meiner Pfeife“.
Aber Dominic verharrte ungerührt auf seinem Sitz. Er schien unbeeindruckt, frei von Angst. Er lächelte fast ein wenig.

Dominic, das lernte ich in der Folge, war ein sonderbarer Schüler. Er sprach wenig bis gar nicht. Er machte keinerlei Anstalten, Anschluss zu suchen oder zu finden. Er lächelte, war höflich und zuvorkommend. In den Pausen und nach Schulschluss ging er seiner Wege. Für gewöhnlich hätten wir einen Schüler wie Dominic schikaniert, auflaufen lassen, gehänselt und verprügelt. Aber vom ersten Moment an war irgendwie allen klar: mit dem nicht. Er wirkte reifer, abgeklärter als die meisten von uns. Im Unterricht sagte er nie einen Ton, auch seine schriftlichen Arbeiten waren eher durchschnittlich, und trotzdem wirkte sein Geist wie ein scharfes Messer. Ich muss zugeben, sein Verhalten imponierte mir. Es war ihm offenbar egal, was wir über ihn dachten, und er brauchte keine Freunde, keine Beschützer, keine Lobby. Er war sich selbst genug, und das machte seine Kraft aus. Dachte ich.

„Contrôle de devoirs. Hausaufgabenkontrolle!“
Pater Zoschke war schlecht gelaunt. Seine Stimmlage und sein provozierender Blick sprachen Bände. In Windeseile holten wir unsere Hefte hervor und breiteten sie vor uns aus, die Hausaufgaben schön säuberlich vor uns. Dominic, neben mir, tat nichts. Keine Bücher, kein Heft, keine Aufgaben. Ich tippte ihm mit meinem Ellenbogen in die Seite.
„Hol deine Hausaufgaben raus“, raunte ich ihm zu.
Dominic war seit vier Wochen an unserer Schule. Er hatte sich immerhin soweit eingelebt, dass er den Unterricht meist unbeschadet überstand. Im Französischunterricht hatte er bisher jede Frage von Pater Zoschke mit einem höflichen ‚Je ne comprends pas’ beantwortet, aber seine Hausaufgaben hatte er dennoch. Nur an diesem Tag nicht.
„Hol deine Hausaufgaben raus“, wiederholte ich, dringlicher im Ton.
Aber Dominic drehte sich seelenruhig zu mir um und schaute mich entspannt an.
„Lass gut sein“, sagte er.
Pater Zoschke ging durch die Reihen. Ich spürte die Anspannung in mir. Gleich ist er hier, dachte ich. Gleich gibt es ein Donnerwetter. Gleich geht es los.
Pater Zoschke trat an unseren Tisch.
„Contrôle de devoirs. Hausaufgabenkontrolle!“, wiederholte er.
Ich zeigte mit dem Finger auf mein Heft, aber es war klar, dass ich nicht gemeint war. Dominic blieb regungslos sitzen. Er sagte keinen Ton, schaute auch nicht hoch.
„Contrôle de devoirs. Hausaufgabenkontrolle!“, kam es wieder von Pater Zoschke. Ich senkte meinen Kopf. Ich erwartete das Schlimmste.
„Dominic!“, versuchte es Pater Zoschke ein letztes Mal.
Jetzt hob Dominic langsam den Kopf. Ich hielt meinen unten. Gleich würde Pater Zoschke ihn am Ohr packen, ihn hoch und nach vorne zerren und vor der ganzen Klasse wüst beschimpfen. So hatten wir es schon oft erlebt. Jetzt gleich passiert es, dachte ich.
Die Zeit schien still zu stehen. Ich spürte die Blicke der Mitschüler, die gebannte Haltung, die Unruhe in der Luft. Doch nichts passierte. Statt Dominic anzupacken, statt ihn verbal zu erniedrigen, ging Pater Zoschke einfach weiter.
„Contrôle de devoirs. Hausaufgabenkontrolle!“, sagte er am nächsten Tisch.
Ich erhob meinen Kopf. Was war passiert?

„Den Blick hättet ihr sehen sollen“, meinte Erwin in der großen Pause.
Die Jungs standen alle im Kreis und redeten durcheinander. Etwas Ungeheuerliches war passiert.
„Ich sage euch, dieser Blick“, fuhr Erwin fort, „da gefriert einem das Blut in den Adern“.
Da ich später dazu gekommen war, glaubte ich zuerst, es ginge um den Blick von Pater Zoschke.
„Pater Zoschke hatte Bammel, sage ich euch“, warf Ansgar ein. „Er hatte Angst vor Dominic.“
Zustimmendes Raunen. Dann, wie auf ein unsichtbares Kommando, schwenkten alle ihren Kopf und schauten zu Dominic, der am anderen Ende des Pausenhofs herumstromerte. Ganz entspannt, mit den Händen in den Hosentaschen. Ohne Ziel, ohne Eile.
„Ein Teufelskerl!“, sagte Ansgar, der besonders ergriffen schien.
So entstehen Legenden, dachte ich.

Schon am Nachmittag spürte ich den Zweifel, den Dominic mit seinem Verhalten gesät hatte, in mir keimen. Ich saß über den Französischaufgaben. Die erste Aufgabe hatte ich mit der üblichen Energie und in fein säuberlicher Handschrift ins Heft geschrieben. Selbst die Aufgabenstellung hatte ich nochmal abgeschrieben. Aber jetzt, als es um die zweite Aufgabe ging, verspürte ich plötzlich Unlust, gepaart mit einem Quäntchen Aufsässigkeit. Ich schrieb die ersten Sätze nachlässig hin. Ein verrutschtes ‚a’ hier, ein fehlender accent dort, ein vergessenes çedille: mir einerlei. Was will der Zoschke denn tun? Wahrscheinlich merkt er es nicht einmal. Und so wurde ich immer schludriger in der Bearbeitung der Aufgaben, bis meine Handschrift zum Schluss fast unkenntlich war.

„Contrôle de devoirs. Hausaufgabenkontrolle!“
Tags darauf. Wir taten, wie uns geheißen. Pater Zoschke, betont unberührt von den Ereignissen des gestrigen Tages, ging zunächst gemächlich durch die Reihen. Er machte beim ersten Schüler ein Kreuz in sein Heft. Er ging weiter zum nächsten, anschließend zum dritten und zum vierten. Routine. Beruhigende Routine. Doch dann, leicht irritiert, blieb er bei einem Schüler, Ferdinand, etwas länger stehen und starrte ungehalten auf dessen Heft.
„Sauklaue!“, grummelte er und zog an Ferdinands Ohr. Dann ging er weiter. Schon beim übernächsten Schüler bot sich ihm offenkundig das gleiche Bild. Auch diesem Schüler zog er das Ohr lang. Beim dritten Schüler, die Dynamik des Ganzen verstehend, verlor Pater Zoschke die Nerven. Er nahm das Heft des Schülers und schlug es ihm um die Ohren. Dann wandte er sich an uns alle. Wutentbrannt schaute er uns an.
„C’est une révolte?“, schrie er.
Einen

Hommage an Stefan Zweig

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