Der beginnende Wahnsinn in 365 Schritten

Bild von Alf Glocker
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75. Schritt

Manchmal, nein, fast andauernd sehe ich sie – in den Augenwinkeln: Dinge, die es nicht gibt, Menschen, die nicht mehr leben, ungeborene Seelen, die Zukunft mit sich herumtragen.

Dann denke ich einfach das seien Pflanzen und ich spreche mit ihnen. Sie offenbaren mir was sie auf keinem Herzen haben, flüstern mir ein, nicht ins Ohr, sondern direkt in mein Sein: „Warte nicht, entdecke!“

Und ich bin einsam in dieser Fülle aus Beklemmungen und Bedürfnissen, die an mich herangetragen werden als sei ich ein Himmelsspion.

Alle Figuren sind Angstfiguren. Alle Figuren geben vor harmlos zu sein. Am schlimmsten aber sind die Absichten der Lebenden, die Gestalt annehmend, aus ihren Behältnissen, den überfallartigen Charakteren schlüpfen um mich zu bedrängen.

Jetzt kommt es auf meine „Mechanismen“ an, meine eigenen inneren Stimmen, mit aller Ohnmacht gegen die äußeren Stimmen anzusprechen. Dann heißt es lernen!

Aber was? Daß ich mir einbilde schreiben zu können? Schließlich lebe ich auf einer Insel – der Insel der, nein, DES Seligen. Es ist die Insel des Wahnsinns, denn sie hat nur einen Einwohner, zählt aber sehr viele Seelen.

Was davon ist nun echt? Daß ich vorhanden bin wage ich nicht zu beschwören. Mein Dasein könnte genauso gut ein Traum sein. Daß es außer mir diese Informationsquellen gibt, scheint unbestreitbar! Also ist meine Anwesenheit durch sie bestätigt!?

Hahaaaa! Offensichtlich greift mein Ego gerade nach unlauteren Mitteln, um sich zu beweisen, daß da was existiert was mir ähnlich ist. Das sieht mir ähnlich! Da habe ich doch glatt die Frechheit zu behaupten, es gäbe mich, obwohl die ganze Welt dies bestreitet, nur weil ich nicht alleine bin, obwohl ich allein bin?!

Das glaubt mir keine Sau! Das glaube ich keiner Sau – auch dann nicht, wenn ich die Sau selber bin. „Die Welt ist verrückt geworden!“ – sagt wer? „Ich bin verrückt geworden!“ – sagt die Welt. Wer ist die Welt? Ein Haufen Verrückter! Wer bin ich? Ein verrückter Haufen!

So kommen wir nicht weiter, weder die Welt noch ich, meint mein Rest-Verstand. Also zurück zu den Augenwinkeln… Da ist nichts! Außer der kleinen Gestalt vielleicht, dort drüben, am Bücherregal. Sie bewegt sich! Ganz schnell ist sie.

Als ich direkt hinschaue verflüchtigt sie sich in einer Flimmer-Vision, so, als wäre sie nie da gewesen. War sie denn da? Natürlich nicht! Warum nicht? Weil sie nicht da gewesen sein darf – basta! Wenn sie da gewesen wäre, dann wäre ich ja verrückt! Ergo war sie eben nicht da!

Und diese körperlose Stimme hinter meinem Rücken ist auch nicht da! Das bilde ich mir alles bloß ein. Ich bilde mir ein, daß sie deshalb körperlos ist, weil sie aus der Zukunft spricht, die ebenfalls körperlos ist – so wie ich…

Würde ich auf sie hören, zur Kenntnis nehmen was sie mir unaufhörlich einzuflüstern versucht – ich würde mich ängstigen. Ausnahmsweise einmal nicht davor, daß ich auf den Wahnsinn zusteuere, sondern der Geschichte wegen, die sie mir zu erzählen versucht.

Wenn ich mich jetzt umdrehe werde ich sie sehen, die Zukunft, das weiß ich! Deshalb bleibe ich wie versteinert stehen. Vor mir, an den Wänden und an dem Schrank, den ich gestaltet habe – er hat ein paar hundert Spiegelchen – setzen sich die Lichtreflexe einer noch nicht wahr gewordenen Ära zusammen: zu einem Horrorszenario!

Mühsam halte ich die Tränen zurück. Mir fällt ein, daß wer mich einmal wird behandeln müssen, ein armes Schwein ist. Konfrontiert mit meinen Berichten, wird er/sie womöglich selbst zu halluzinieren anfangen. Er/Sie wird denken wollen ich sei vom Teufel besessen, da dies die einfachste aller unmöglichen Erklärungen ist, wenn es schon keine möglichen gibt.

Und ich werde mich in sein/ihr Elend verlieben. Melancholisch werde ich zurückblicken, auf eine Epoche die mir alles gab: verspielte Zwangsvorstellungen, scheinbar jenseitige Stimmen, einen Körper, von dem ich annehmen konnte, daß es meiner ist.

Momentan hat dieser Körper eine neue Vision: er sieht mich in den Augenwinkeln, wie ich mich flimmernd, im Rauschen der Zeit, in etwas auflöse, was es nicht geben kann – in eine unbestreitbare Fatamorgana!

©Alf Glocker

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Kommentare

09. Mär 2015

Prinz Charles spricht doch mit Pflanzen auch!
(VERSteht denn Englisch solch ein Strauch?)
LG Axel

09. Mär 2015

Danke Euch!

Sträucher sprechen selbstverständlich alle Sprachen...
:-)))

LG Alf