Der Statthalter und das Mädchen

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Nicht unerwartet klopfte der Tod eines Tages an meine Tür. Da ich aber mit dem Leben noch nicht abgeschlossen hatte, schickte ich ihn wieder fort. Er ging ohne zu zögern, jedoch wusste ich, dass er mich nur noch wenige Augenblicke verschonen würde. Bevor ich meine Augen für immer schließe, erscheint es mir wichtig, diese Geschichte zu erzählen.
Mein Name ist Alexei Iwanowitsch Grigorjew. Einst wurde ich unter dem mächtigen Herrscher des Reiches, Zar Juri Michail Jurjewitsch zum Statthalter einer ruhmreichen Stadt Namens Mariinsk in der Weite Sibiriens ernannt.
In meiner Jugend war ich ehrgeizig und machthungrig. Jeden Tag bei Sonnenaufgang trieb ich die Soldaten hinaus, denn es gehörte zu meinen Pflichten, die Steuern eintreiben zu lassen.
Im Besitz eines prächtigen Hauses lebte ich ausschweifend und die Speisekammern waren stets bis zur Decke gefüllt, mit den erlesensten Köstlichkeiten aller Art.
Zufrieden erhob mich Juri in den Dienstadel, der verpflichtet war, dem Zaren als Beamter oder Offiziere zu dienen. So wachte ich über die Stadt Mariinsk, die ich von nun an im Namen des Zaren allein regierte.
Während dieser Zeit ließ ich prächtige Kirchen und prunkvolle Gebäude entstehen. Stets achtete ich darauf, die Schatzkammern gefüllt zu halten und die Bevölkerung daran zu erinnern, die Steuern pünktlich zu bezahlen. Wer es wagte, sich den Steuereintreibern zu widersetzen oder nicht zahlen konnte, wurde mit dem Kerker bestraft. Das Flehen und Betteln so manch armer Bauern konnte mein Herz nicht erweichen. Auch das Leid der Frauen, Kinder und Alten ging gefühllos an mir vorüber. Hochmütig stellte ich mich über die alltäglichen Geschehnisse ohne zu bemerken, welche Opfer ich forderte. So führte ich meine Stadt in den Untergang.
Stand das Land anfangs in Blüte, so brachen langsam andere Zeiten heran. Jedes Jahr kehrten
die Soldaten mit weniger Einnahmen zurück. Immer öfter waren die Truhen leer. Und so leer wie diese Truhen waren die Kisten und Stände auf den Märkten der Stadt. Immer weniger Kaufleute und Bauern kamen nach Mariinsk. Die Menschen vom Lande, die noch nicht in dem Kerker verfaulten, flohen mit ihrem letzten Hab und Gut aus der Region, um in der Ferne ein neues Leben zu beginnen. Dennoch achtete ich darauf, dass meine Schatzkammern mit Goldstücken, Silberlingen, Geschmeide und kostbaren Stoffen gefüllt blieben. Dieser Reichtum machte mich stolz und verlieh mir hohes Ansehen beim Zaren und dem Stadtadel. Doch in der Speisekammer sah es anders aus. Kaum Nahrung bot sie mehr. Selbst den Soldaten wurde die tägliche Ration gekürzt. Als Ausgleich gab ich ihnen in meiner grenzenlosen Einfalt mehr Lohn. Doch es änderte nichts daran, dass sie keinen Hunger mehr leiden sollten. Aus meinen gehorsamen Soldaten wurden Meuterer. Viele von ihnen ließen mich im Stich. Sie zogen ihre Uniform aus und verließen die Stadt. Die noch verbliebenen Männer entließ ich nach und nach, da ich sie nicht mehr ernähren konnte. Ein kleiner Trupp Soldaten eilte eines Tages fluchtartig aus Mariinks, als ich sie in die umliegenden Dörfer abkommandierte, um Nahrung zu besorgen. Als ich die letzten Soldaten, die mir blieben, in die umliegenden Städte schicken wollte, um Nahrungsmittel einzukaufen kehrte niemand mehr zurück.
Eines Tages befahl ich meinem einzigen Diener, der letzte, der noch geblieben war, mein Pferd für einen Ausritt vorzubereiten. Ich wollte nun selber über Land reiten und Ausschau halten, um mich von der Lage meiner Stadt und von der Umgebung zu vergewissern.
Doch kaum eine Menschenseele begegnete mir. Nur ödes, verwildertes Land, unbestellte Felder, verwüstete Häuser und Brunnen und ein paar Ziegen, die das vertrocknete Gras fraßen. Eine absonderliche Stille umgab mich. Kein Laut war zu hören. Nicht einmal der Wind sang sein klagevolles Lied. Es schauderte mich das Land so zu sehen.
Auf dem Rückweg erblickte ich einen Bettler, der am Wegrand kauerte. Flugs machte er sich davon, als ich in seine Reichweite kam.
„Im Namen des Zaren“, rief ich, „bleib stehen und berichte mir, wo all die Menschen geblieben sind.“
Ängstlich drehte er sich um und hinkte langsam heran: „Herr, ich vermag nur zu sagen, dass sie vor euch geflohen sind. Denn ihr habt ihnen alles genommen bis auf das blanke Leben. Sie suchen ihr Glück bei einem besseren Herrscher.“
„Du wagst es, so mit mir zu reden“, schrie ich den Alten an. Für diese Untat sollte ich dich in den Kerker werfen lassen. Doch ich bin bereit mit dir über deine Freiheit zu verhandeln. Was hast du mir anzubieten?“
Der alte Bettler verneigte sich und antwortete gelassen, „Oh mein Herr, außer meinem Leben nichts weiter als eine leidende Frau und eine Tochter. Kein Gold, kein Geschmeide, keine kostbaren Gewänder und auch keine wertvollen Teppiche mehr, all dieses habt ihr mir schon längst genommen. Einst besaß ich ein gut besuchtes Teppichhaus, lange ist das her, fügte der Bettler mit einem tiefen Seufzer hinzu.“
„Wie willst du dann für deine Freiheit bezahlen?“ fragte ich erbost. „Ich bezahle mit meinem Leben“, entgegnete der Mann, „es ist nicht wertvoll, aber alles was ich noch besitze.“
„So gib mir deine Tochter“, forderte ich, „dann schenke ich dir das Leben.“ „Was wollt ihr mit meinem Kind, es ist unschuldig und noch so jung an Jahren“, jammerte der verarmte Mann. „Was willst du mit einem Kind, das du nicht ernähren kannst“, hielt ich energisch dagegen.
„Wenn dies Gottes Wille ist“, seufzte der Bettler, „aber bitte seid gut zu ihr, sie ist ein liebes Mädchen, gehorsam und immer freundlich.“ Dann holte er seine Tochter und überließ mir Marusja mit hängendem Kopf, damit ich seine Tränen nicht sehen konnte. Auf meinem Befehl hin zog sich der vor Gram gebeugte Mann verneigend zurück.
Das Mädchen schaute mich mit ihren großen dunklen Augen traurig an, aber sie weigerte sich nicht, mit mir zu gehen. Sie trug ein altes verschlissenes Kleid, der Stoff schien aus edlem Tuch, doch die einst tief rote Farbe leuchtete nicht mehr. Das Kleid war verblasst, ergraut und mit Schmutz überdeckt. Ihr langes dunkles Haar wirkte wie ein Schleier, der das zarte blasse Gesicht umgab. Die kleinen Hände zitterten, als ich ihr meine große Hand reichte um beim Aufsitzen auf das Pferd behilflich zu sein. Ohne ein Wort an sie zu richten, ritt ich zurück zu meinem Palast. Hier angekommen überließ ich das Mädchen meinem Diener. Lange beachtete ich das Kind nur beiläufig. Sie war gelehrig, intelligent und nach ein paar Monaten machte ich mich zu ihrem Lehrer. Mathematik, Geographie, aber auch die Sprachen ferner Länder weckten ihr Interesse. In meiner Bibliothek befanden sich Bücher für einen gehobenen Bildungsstand. Marusja bereicherte sich mit Wissen und das einst so schmutzige kleine Mädchen verwandelte sich in eine schöne gebildete Frau.
Marusja war gehorsam, so wie ihr Vater es versprochen hatte, stets freundlich und hilfsbereit. Sie achtete mich und ich erfreute mich an der schönen Blume, die ich unversehend am Wegrand gefunden hatte. Obwohl ich ihr die Eltern nahm war sie nie vorwurfsvoll, niemals zeigte sie mir Traurigkeit oder Sehnsucht nach der Freiheit. Manchmal strich sie mir zärtlich über den Handrücken oder berührte sanft mein Gesicht, dabei lächelte sie zuckersüß und in mir machten sich Gefühle bemerkbar, die ich nie zuvor verspürt hatte. Meine sonst so schroffe Art wich Ich sprach leise, höflich und rücksichtsvoll mit ihr. Der Liebreiz dieser jungen Frau war mir unter die Haut gefahren. Und immer wenn ihre sanfte Hand mich unabsichtlich streifte, strömte eine Woge der Hitze durch meinen Körper. Ich begehrte sie stets mehr, so dass ich ihr eines Tages meine Liebe gestand. Wie es ihre Art war, nahm sie dieses demütig zur Kenntnis, entgegnete aber nichts.
Unterdessen verfiel die Stadt immer mehr. Mit sorgenvollem Gesicht trat ich zu meiner Angebeteten. „Manjetschka, meine Schöne, was kann ich tun, damit diese Stadt zu neuem Leben erblüht?“
Ich erwartete keine Antwort, denn untergeben wie sie war, sprach sie nur selten in meiner Gegenwart. Doch dieses Mal blickte sie auf und wagte, vor mich hin zu treten: „Mein Herr, behandelt sie wie eine Blume. Doch erfreut euch nicht nur an der Blüte und berauscht euch an ihrem Duft, sondern beachtet auch den Stiel, die Blätter und die Wurzel. Der Stiel gibt ihr Standfestigkeit, die Blätter gewähren Schutz, vor allem aber nährt die feine Wurzel, den Ursprung ihres Daseins und ihrer Schönheit.“
Überrascht von dieser Antwort blickte ich sie an, wagte es aber nicht, sie zu tadeln. Marusja verneigte sich und bat um Entschuldigung für ihre vermessene Äußerung. Ich jedoch erlaubte ihr keine Rechtfertigung. Ihre Bemerkung hatte mich getroffen. Es war mir, als begann ich etwas zu verstehen. Langsam trat ich auf Marusja zu, kniete vor ihr nieder und bat sie meine Frau zu werden. Ihre Antwort ließ mich schweigen: „Erst wenn der Fluss wieder Fische mit sich führt, wenn der Duft von frischem Brot über den Markt zieht und wenn ihr, mein Herr bemerkt, dass man Gold nicht essen kann. Erst dann werde ich eure Frau.“ Abermals verneigte sie sich und verschwand ohne um Erlaubnis zu bitten.
In meinem Kopf brodelte es, an meinem Herzen nagten Kummer und Hilflosigkeit. Mein Gewissen plagte mich. So eilte ich in die Kirche zum Abendgebet. Doch auch das Gebetshaus war, wie alle Gebäude in der Stadt, verlassen und leer. Ich warf mich auf den Boden, betete reumütig zu Gott und bat ihn um Rat und Hilfe.
Der Priester hörte meine Worte und sprach leise: „Was kann Gott dir raten? Er sieht wie du den Verfall, die Ruinen und die Armut. Was weiß er, was du nicht auch weißt? Ohne Saat gibt es keine Ernte, ohne Gold gibt es keine Saat, ohne Hände gibt es kein Wachstum, ohne Bäcker gibt es kein Brot, ohne Brot regieren Leid, Armut und Tod.“ Der Priester verließ die Kirche und ließ mich in meinen Gedanken allein. Welch törichte Handlungen hatte ich vollbracht, wie dumm und geblendet regierte ich. Wie hochmütig und eigennützig war ich gewesen. Dies sollte von nun an ein Ende haben. Meine Schatzkammer war gefüllt mit dem Gut, das ich den Menschen gestohlen hatte. Ich verkündete, dass es gerecht unter der Bevölkerung verteilt würde. Die Männer im Kerker erhielten ihre Freiheit. Die verbliebenen Soldaten meiner Garde halfen beim Wiederaufbau der Häuser und Brunnen. Es dauerte nicht lange und die Flüchtenden kehrten zurück in ihre Heimat. Die Felder keimten, Korn Obst und Gemüse wuchsen prächtig, der Markt lebte. Kaufleute und Bauern boten eine Vielfalt ihrer Waren feil. Der Duft von frischen Backwaren erfüllte die Luft. Die Fischer flickten ihre Netze und im Fluss tummelten sich Myriaden von Fischen. Ich senkte die Steuer, denn für ihre harte Arbeit und all ihren Bemühungen sollten die Menschen gerecht entlohnt werden. Marusja, die schönste Blume der Stadt, hatte mir meine Augen geöffnet.
So kniete ich noch einmal vor meiner Liebe nieder und bat inständig um ihre Hand. Manjetschka lächelte bescheiden: „So Gott will, werde ich eure Frau.“
Als die Liebe mein Herz eroberte, wandelte sich mein Leben und das Glück hielt Einzug. Mariinsk, die Stadt die ich so geknechtet hatte, erblühte in neuem Glanz, in Frieden und in Freiheit.
Nun tragt sie hinaus, meine Geschichte. In alle Länder dieser Erde, damit ein jeder begreift: Das höchste Gut der Menschen soll stets allgegenwärtig sein.

Dieses Märchen stammt aus der Reihe: Der Märchen schönste Perle

Veröffentlicht / Quelle: 
im netverlag

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