Der tote Fisch

Bild von Karl Hausruck
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Der tote Fisch

Der eine Fisch ist wie der andere. Gleich wenige Wochen jung, sehr beweglich, verspielt kann man sagen, Liebreiz der Jugend auch in der Wasserwelt.

Ein halbes Jahr später, beinahe erwachsen, ernst, bewußt, existentiell ihr Kreisen, Fressen und einander Gegenübertreten. Vor der Vollendung entfaltete Körperlichkeit.

Eines Tages fällt auf: der eine Fisch bleibt in der Entwicklung zurück, es fällt auf: der eine ist der Herrschende, der andere untergeben. Der eine ist aggressiv, der andere läßt es sich gefallen. Der eine schnappt dem anderen das Fressen weg. Der eine verjagt schließlich den anderen.

Man richtet zwei Futterstellen ein. Ist in der einen Ecke der eine mit dem Fressen beschäftigt, streut man in der entgegengesetzten Ecke dem anderen sein Futter hin. Aber da verläßt ersterer seine Futterstelle, nur um den zweiten zu verjagen.

Der kleine Fisch, wie er jetzt heißt, kommt nicht mehr zur Fütterung. Man ärgert sich, daß der sich so tyrannisieren läßt, denkt aber, er wird sich schon nähren von dem Vielen, das herabsinkt zwischen die Steine des Aquariums. Aber auch dabei jagt der Große den Kleinen.

Diese Beobachtungen sind nicht wirklich manifest. Immer wieder sieht man die beiden durch das Wasser ziehen, wenn auch das hierarchische Verhältnis unübersehbar ist.

Die Erinnerung des vergangenen Monats aber zeichnet insgesamt folgendes Bild: der kleine Fisch bewegungslos in der Mittelschicht des Aquariums und der Große durchzieht den ganzen Raum von oben bis unten.

Seit Wochen erscheint der kleine Fisch nicht mehr zur Fütterung. Seine Entwicklung bleibt immer weiter zurück. Er magert zusehends ab und sein Goldorange verfärbt sich zu weißer Fleckigkeit.

Jetzt geht man zum Tier-Händler. Der kann nichts Ungewöhnliches entdecken. Die weißen Flecken haben nichts Krankhaftes, das Schuppenkleid ist makellos. Im Becken des Händlers schwimmt eine ganze Armada weiß-orange gefleckter Artgenossen. Die Freßunlust führt der Tier-Händler auf die winterlich reduzierte Tageshelligkeit zurück, vielleicht ist auch das Wasser nicht in Ordnung, zu viel Kalk. Man kann auch lesen, daß die Fische wochenlange Hungerpausen schadlos überstehen. Und die Herrschaftssituation im Aquarium nehme man als pure Natur. Organisationsprinzip unter Herdentieren, Auslese, Geschlechtsunterschied.

In der folgenden Woche bleibt alles beim Alten. Der kleine Fisch frißt nicht, er scheint aber beweglicher zu sein.

Eines Morgens ist der kleine Fisch heroben. Knapp unter der Wasseroberfläche schwimmt er unruhig hin und her. Er sieht sehr geschwächt aus. Die Rückenflosse ist dicht an den Körper gelegt. Er schnappt nicht nach Luft, also herrscht im Wasser kein Sauerstoffmangel. Er scheint zu torkeln. Will er endlich fressen? Er frißt nichts.

Nach dem nachmittäglichen Spaziergang treibt der Fisch, reglos zur Seite gedreht, an der Wasseroberfläche. Er lebt noch, reagiert ganz schwach, wenn man ihn berührt. Man nimmt ein kleines Gefäß, füllt es mit frischem Wasser und setzt den Fisch hinein. Angeschnippt läuft ein kurzer Reflex durch den Körper, dann treibt er wieder wie tot.

Wenn man so fortführe, könnte der Fisch gar nicht sterben. Unglaublich ist die Reflexkraft dieses ausgezehrten Tierkörpers.

Der Fisch treibt weiter auf der Seite liegend an der Oberfläche. Angeschnippt, richtet er sich auf und schwimmt, solange man schnippt. Ist das Tierquälerei? oder Mitgefühl, auf daß der kleine Fisch lebe? Alle rundherum hoffen, daß die Belebung gelingt.

Eine radikale Kur soll helfen. Der kleine Fisch wird in ein Gefäß mit Salzwasser gelegt. Nach einigen Schnippern schwimmt er auf einmal zwei Minuten lang aus eigenem Antrieb. Langsam kippt er zur Seite. Neuerliches Anschnippen bringt keine merkliche Reaktion. Zurück ins Süßwassergefäß, aber er läßt sich nicht mehr aufwecken. Man spürt die Anwesenheit des Todes.

Doch zwei Stunden später schwimmt der kleine Fisch in großen, zügigen Runden. Unaufhaltsam. Eine gewaltige Kraft treibt den mageren Körper durch das Wasser. Rhythmisch und gleichmäßig laufen die Schwimmbewegungen durch den Körper des Fisches. Drei Tage und Nächte wird er so schwimmen, wie ein Uhrwerk, eigentlich leblos. Nur zweimal hält er inne. Er steht in der Gefäßmitte, den Kopf dem Betrachter zugewandt, verständnislos oder weise, nicht mehr von dieser Welt.

Der Fisch magert auf seiner letzten, ungeheuren Schwimmtour bis auf das Skelett ab, von durchscheinenden Geweben umspannt und mit blutunterlaufener Schädeldecke seines Knochenkopfs. Die ganze Kraft fließt in das Schwimmen, in diese Wellen vom Maul zur Schwanzflosse.

Da wird bekannt:

Es gibt einen Krebs, der sich im Darm des Fisches entwickelt. Nach drei Wochen durchstößt er als millimeterlanger Wurm die Darmwand und wandert an die Oberfläche des Fisches. Dort reckt er das Hinterteil ins Wasser, aus dem im Reifestadium tausende Eier ins Freie treten. Diese werden vom Fisch gefressen und ein neuer Kreislauf beginnt. Bald ist der Verdauungstrakt des Fisches vollkommen zerstört.

Die Zerstörung des Verdauungstraktes führt zum totalen Verlust des Hungergefühls. Den Fisch kann keine noch so verlockende Speise mehr zum Zuschnappen verführen. Du mußt doch Hunger haben, kleiner Fisch, friß doch wenigstens ein bißchen. Wie falsch! Die kleinste Nahrung würde im Fisch verfaulen und ihn vergiften.

Was macht das aus, ist er doch sowieso dem Tode geweiht.

Wer maßt sich an, das zu sagen? Fische vermögen Wochen und Monate zu hungern. Ganze Abschnitte ihrer Existenz. Sie müssen Winterzeiten und Mangel anderer Art überdauern, wenn sie dabei der Hunger quälen würde, wie sinnlos. Der kleine Fisch unterscheidet nicht zwischen dem Nahrungsmangel eines strengen Winters und der Freßunlust infolge der Zerstörung des Verdauungstraktes durch den Parasiten.

Leben und Sterben des Individuums sind der Art wie Ein- und Ausatmen. Das individuelle Leben befriedigt das Bedürfnis der Art, erfüllt ihr Lustziel. Die individuelle Lust ist auf den Artgenossen gerichtet, um die angehäufte Energie zu entladen. Die Art wiederum will nichts als Fortpflanzung.

Die individuelle Freßlust hingegen ist je nach Magenzustand vorhanden oder nicht. Die Lust zum Artgenossen berührt das nicht. Diese bewegt den Fisch weiter, unabhängig vom Schicksal seiner inneren Fabrik. Doch der Artgenosse flieht den vom Tode Gezeichneten, solange er sich noch nicht selber angesteckt hat. Deshalb muß ein Größeres den Kranken trösten.

Die Zerstörung seines Verdauungstrakts machte den Fisch von seinem individuellen Schicksal unabhängig. Es gab nichts mehr, was zwischen ihm und der Lust nach dem Artgenossen stand. Dem galt jetzt seine ganze Energie und Aufmerksamkeit.

Ohne den Eßtrieb steht nichts mehr zwischen dem Hungernden und dem Wesen seiner Natur. Ohne die Sorge um seine individuelle Zukunft ist er nur noch der Lust zur Art, ohne jede Ablenkung, ohne Profitgedanken, ohne eigenen Vorteil bis zum eigenen Verlöschen hingegeben. Magie des grenzüberschreitenden Fastens.

Nachdem der Fisch durch die Salzkur aus tiefer Ohnmacht erwachte, war sein individuelles Leben vorbei. Danach gab seine unendliche Schwimmtour die noch im Körper enthaltene Lebensenergie, losgelöst von jeder neurotischen Existenz, der Lust zur Art hin. Seine letzte Schwimmtour leitete die Energie in den rhythmischen Bewegungen des Fischleibs bis auf den letzten Tropfen aus jeder Körperfaser in die Art ab, in ihr Lebenselement. Sie trieb den Fisch drei Tage und Nächte voll Schönheit in magischen Zirkeln durch das Wasser zu einer endlosen Begattung und erhob ihn aus unserer beschränkten Dimension.

Die rhythmischen, mechanischen, unpersönlichen, entfesselt getriebenen Bewegungen waren die endgültige Vereinigung. Die Vereinigung mit einem Partner wäre keine tiefere gewesen als dieses Schwimmen. Kein anderer Weg wäre lustvoller, als die Vereinigung mit den Elementen.

Lust kennt ihren Sinn nicht. Die Erschöpfung nach der unendlichen Reise des Fisches entspricht der artgerechten.

Danach den flaumleichten Fischleib aus dem Wasser genommen und in weicher Erde vergraben. Der Abschied war heiter, so wie er vor Tagen noch traurig gewesen wäre.

Vielleicht hätte man den Fisch vor drei Tagen sterben gelassen oder vor zwei Wochen sein Leben gewaltsam beendet. Diese Abfuhr aber ohne jedwedes Zeichen des Schmerzes, diese ernste Lust zur Vollendung der auf den Weg geschickten Entladung, beklagt den gewaltsam akuten oder schleichenden Tod, ja will die durch das Versagen lebenswichtiger Organe Gestorbenen erwecken, um ihnen den Abfluß der Lebensenergie zu schaffen, ihnen das Scheiden zum Lustakt zu machen und sie völlig entleert dem Ewigen zu zuführen.

Die Erweckung am jüngsten Tag führt ins Paradies des unendlichen Strömens in die Engel, anstatt die aufgenommene Energie in die faulende Hölle der bakteriellen Wiedergeburt zu bannen. Ein Entschluß zum Sterben erlöst von der Sorge um das Glück. Dem Lebendigen die Anstrengung des Geistes auf solche Wege bringen.

Was hier nicht mitteilbar ist und schon gar nicht zu verwirklichen, geschah am kleinen Fisch. Die vollständige Abfuhr der Energie dieses kleinen Wesens hat das Universum beruhigt.

Wie schrecklich hingegen die Körper der Verunglückten, Getöteten, Geschlachteten und der am Versagen eines lebenswichtigen Organs Gestorbenen. Wo die Lebensenergie nicht abgeführt wird, schreit das Fleisch nach Erlösung.

Die ohne das Erfordernis des Lebenserhalts befreite Abfuhr der Energie ist ein Zeitraffer der Natur. Nach der vollkommen aus der letzten Zelle abgeführten Energie bleibt nur noch vergreiste Materie.

Die Energie der Tiere, ihre Milch und Eier, der Pflanzen, ihre Früchte und Samen, lebt weiter im Esser, bevor sie die Bakterien und Würmer ergattern. So bringt schließlich doch noch die Energie der gewaltsam oder durch Organversagen zu Tode gekommenen Artgenossen durch Verspeistwerden ihre Bestimmung zu Ende.

Doch nur die in das Element abgegebene Energie bringt Ruhe in den Kosmos.

Das begrabene Fleisch kommt in den Kreislauf der Pflanzen, Bakterien und Würmer und schließlich auch der gewaltsam krepierende Unhold.

Interne Verweise

Kommentare

08. Dez 2020

Ja, so siehts aus!

Gilt wohl auch für die kleinen Fische unter uns...

aber auch zuerst völlig gesunde, lebensfrohe Fischlein kann man krank machen wenn man ihnen andauernd vor Augen führt, daß sie nicht (mehr) erwünscht sind.

Vielen Dank für dieses schöne Geschichte!