Marlene - Page 2

Bild von Maik Kühn
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blauen „Gewässer“, jeweils ein schwarzes Loch namens Pupille.
Am Anfang konnte man ihren Blicken noch standhalten, fühlte sich davon sogar magisch angezogen, aber nach einer Weile kam schnell der Wunsch auf woanders hinzuschauen. Er sah sich deshalb in dem Jugendzimmer ein wenig um. Neben dem bereits erwähnten Sofa, gab es noch einen Schreibtisch ohne Stuhl, offensichtlich höhenverstellbar, Schrank, Kommode samt sich darüber befindenden Spiegel und natürlich das Bett zu entdecken. Gleich zwei große Fenster sorgten bei Tag sicherlich für viel Sonnenlichteinfall.
„Hilft dir dein Vater auch beim …“
„Keine Angst, ich kann noch recht viel allein machen. Im Badezimmer gibt es beispielsweise einen Duschstuhl. Das An- sowie Ausziehen dauert zwar länger als bei anderen Menschen in meinem Alter, aber funktioniert und das Umsetzen geht dank meines geringen Körpergewichts ebenfalls ohne fremde Hilfe. Die Beine sind übrigens von den Oberschenkeln an gelähmt … So, jetzt aber mal raus mit der Sprache. Was willst du eigentlich von mir?“
Lippenstift schien nicht aufgetragen worden zu sein, doch auch ohne obligatorische Rahmung bekamen die auffallend geraden und natürlich weißen Zähne größtmögliche Aufmerksamkeit.
„Lennox hat mich …“
„Sorry, aber ich muss mal kurz Hand anlegen …“
Eine Locke hatte sich aus der zum einfachen Zopf gebundenen Pracht gelöst. Marlene entknotete das entsprechende Band und zum Vorschein kamen mittellange Haare in welligem Dunkelblond.
„Wow!“
„War ja klar, dass du mit dieser Frisur mehr anfangen kannst. Na gut …“
Sie wuschelte mehrfach in der üppigen Mähne herum. Das Haargummi befand sich inzwischen an ihrem Handgelenk.
„Also?!“
„Also was?“
Scheinbar gelangweilt blickte Marlene aus dem Fenster.
„DU hast mich doch unterbrochen!“
Mit treudoofem Hundeblick versuchte Jaron schnell die Folgen seiner Worte abzumildern.
„Lennox oder im Netz besser bekannt als ‚Lenny2000‘, schrieb in einem Selbsthilfeforum über Ängste, die er angeblich dank einer Hypnosebehandlung verloren hätte. Auf Nachfrage machte er dann jedoch ein großes Geheimnis um seine angebliche Therapeutin. Daraufhin habe ich ihn ignoriert, ja sogar als Spinner abgetan … Wie aus heiterem Himmel wollte er dann auf einmal alles über mich wissen und warum ich denn dieses Forum aufgesucht hätte. Ohne ins Detail zu gehen, beschrieb ich ihm mein Problem, wir verabredeten uns, er führte mich zu dir bis fast vor die Haustür und …“
„Therapeutin, wie süß.“
In diesem Moment fühlte er sich endgültig nicht mehr ernst genommen, stand auf, ging um den Rollstuhl herum Richtung Tür und war kurz davor diese zu öffnen.
„Bleib schon hier! Sorry, ich bin manchmal echt blöd gegenüber anderen Menschen.“
Wenig später saß Jaron wieder auf dem Sofa, quasi der letzte Versuch sich mit seinem Problem an sie zu wenden.
„Was genau ist denn dein Problem?“
„Es mag völlig absurd klingen, aber ich habe schreckliche Angst sterben zu müssen. Jetzt hier zu sein hat mich wirklich sehr viel Überwindung gekostet, denn die meiste Zeit hänge ich in meiner kleinen Studentenbude ab und traue mich kaum mehr nach draußen.“
Marlene schaute ihm tief in die Augen und beugte sich dabei etwas nach vorne. Der Abstand zwischen den beiden verringerte sich somit, was Jaron stark verunsicherte. Es fiel ihm zunehmend schwer den Blickkontakt zu halten.
„Schau tiefer hinein, auch wenn es für dich gerade unangenehm ist!“
Immer stärker werdendes Zittern nahm Besitz von seinem Körper. Es wurde wärmer bis heiß, Schweißperlen übersäten die Stirn.
„Ich kann wirklich nicht mehr!“
Die Blicke fokussierten sich derweil ziemlich genau zwischen ihren Augen, dann oberhalb und schließlich wagte er einen letzten Versuch des direkten Fixierens. Kleine grünbraune Punkte erschienen aus dem Nichts oder waren diese interessanten Tupfer zuvor einfach nicht aufgefallen, da das Blau der Iris so sehr dominierte? Wie Planeten kreisten diese Punkte jetzt in beiden Augen um das jeweilige schwarze Loch. Die Umrundungen nahmen stetig an Geschwindigkeit zu und am Ende sah man nur noch Ringe in unterschiedlichen Größen.
„Gut, sehr gut. Du kommst langsam immer mehr zur Ruhe und achtest nur noch auf deine Atmung.“
Die scheinbar erhöhte Körpertemperatur und das auffällige Zittern verschwanden binnen kürzester Zeit. Aus dem Erdgeschoss drang ein Poltern zu ihnen herauf, doch Jaron nahm es bereits nicht mehr wahr. Ihre Stimme und seine Atmung, mehr schien in diesem Moment nicht mehr zu existieren. Saßen sie eigentlich überhaupt noch in Marlenes Zimmer? Völlig egal, Hauptsache, ihre ungewöhnlichen Augen hörten nicht auf mit diesem einmaligen Schauspiel.
„Lass los, was dich bedrückt. Lass ES los …“
Mit dem Zeigefinger berührte sie eine Stelle an seinem Hinterkopf.
„Lass ES los …“
Punktueller Schmerz löste leichte Übelkeit aus. Ihm wurde schwarz vor Augen, denn alles in diesem Raum schien sich auf einmal zu drehen. Schneller und schneller und schneller …
„Lass ES los …“

Völlige Dunkelheit, nicht einmal ansatzweise schien es in der Nähe eine Lichtquelle zu geben.
„Marlene!? Bist du hier?! Marlene!!!“
Wie ein krabbelndes Kleinkind bewegte sich Jaron langsam mit tastenden Händen über den Boden. Glatter Untergrund, als offensichtlich gleichmäßige Fläche zusammenhängend. Keine Fugen oder sonstige Übergänge, keinerlei herumliegende bzw. -stehende Gegenstände. Nicht einmal winzigste Fremdkörper, beispielsweise kleinste Steinchen. Die Grundfläche schien quadratisch zu sein. Auch die vier Wände fühlten sich an wie der Boden, aber leider ohne Tür oder dergleichen.
Behutsam wurde sich aufgerichtet. Er konnte freistehen, berührte allerdings dank ausgestreckter Arme recht schnell die Decke. Abgefahren, denn dieser Raum hatte mit allergrößter Wahrscheinlichkeit die Form eines Würfels. Gleiche Länge, gleiche Breite, gleiche Höhe.
„Fuck!“
Steril, still, dunkel, aber immerhin gut beheizt war es in diesem geometrischen Körper. Nur, wo befand sich eigentlich seine Fleecejacke samt darunter getragenem T-Shirt? Nicht, dass die Kleidungsstücke aktuell benötigt wurden, aber …
„Marlene, lass mich hier sofort raus!!!“
Dieses ungewöhnliche Gefängnis musste irgendwo im Keller ihres Hauses verortet sein.
Eine mögliche Chronologie der Ereignisse:
Ihm war schwarz vor Augen geworden. Die Hypnose führte also offensichtlich zur Ohnmacht. Verzweifelt musste Marlene dann wohl ihren unsympathischen Vater herbeigerufen haben. Dieser wiederum handelte und brachte ihn hierher …?
„Ach du Scheiße …“
Keine Schuhe, keine Socken, keine Jeans. Löblicherweise durfte immerhin noch die eigene Unterhose am Körper getragen werden.
„Warum fällt mir das eigentlich erst jetzt auf?“
Andere Eindrücke fanden unmittelbar nach seinem Aufwachen wohl deutlich mehr Beachtung als die erst jetzt gewonnene Erkenntnis, beinahe völlig unbekleidet zu sein.
Keinerlei Fremdgeräusche, absolute Stille, nur seine Atmung verursachte akustische Reize. Doch plötzlich machte sich Rauschen in den Ohren breit, ergänzt durch rhythmisches Pochen. In das Rauschen wiederum mischten sich leise Wortfetzen, als ob sich die entsprechende Person

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