Staatswirtschaft - Page 2

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an meine Arbeit zu kommen. Da entgegnete er: »Einen Augenblick habe ich wohl daran gedacht, die acht Blitzableiter anzubringen und dann ruhig meiner Wege zu gehen. Mancher würde vielleicht an meiner Stelle so gehandelt haben, aber ich sagte mir: Nein, ich kenne den Mann nicht, und lieber möchte ich sterben, als einen Fremdling ins Unglück stürzen. Auf dem Haus sind noch nicht genug Blitzableiter, und ich rühre mich nicht vom Platz, bis ich ihm das gesagt habe und also getan, was ich wünschte, daß man mir in demselben Falle täte. – Fremdling, meine Pflicht ist erfüllt! Wenn der rekalzitrante und dephlogistische Himmelsbote Ihr Haus trifft, so – –«

»Schon gut, schon gut,« rief ich; »pflanzen Sie die andern acht auch auf – verwenden Sie meinetwegen noch fünfhundert Fuß spiralförmig gebogene Leitungsstangen; tun Sie, was Sie nicht lassen können; stillen Sie Ihr Sehnen, aber gestatten Sie Ihren Gefühlen nur so weit freien Lauf, als Sie mit dem Wörterbuch reichen können. Wenn wir uns jetzt genügend verständigt haben, möchte ich wieder an meine Arbeit gehen.«

Nun sitze ich schon seit einer vollen Stunde hier und versuche meinen Gedankengang da wieder aufzunehmen, wo ich zuletzt unterbrochen wurde; jetzt endlich ist es mir gelungen; ich fahre also fort:

»diesen großen Gegenstand zu bezwingen, aber selbst die Geistesmächtigsten unter ihnen haben einen würdigen Gegner an ihm gefunden, der sich nach jeder Niederlage nur um so mutiger erhebt. Der berühmte Confucius sagte, lieber wollte er ein tüchtiger Staatsmann sein, als Polizeipräsident. Cicero hat häufig den Ausspruch getan, daß die Staatswirtschaft die größte Wirtschaft sei, welche der Mensch imstande sei zu betreiben, und selbst unser Greeley hat im allgemeinen mit Nachdruck angedeutet, daß Staats –«

Hier ließ mich der Blitzableitermann wieder abrufen, und ich ging in einem Gemütszustand hinunter, der an Ungeduld grenzte. Er sagte, daß er untröstlich sei, mich noch einmal stören zu müssen – weit lieber wäre er gestorben. Aber wenn ihm eine Arbeit übertragen sei, von der man erwarte, daß er sie ordentlich und kunstgerecht ausführe und er nach Vollendung des Werkes, im Begriff sich seiner so wohlverdienten Ruhe und Erholung hinzugeben, noch einen betrachtenden Blick darauf werfe und zu seinem Schrecken gewahr werde, daß alle Berechnungen nicht genau genug gewesen seien und daß das Haus, für welches er ein persönliches Interesse fühle, falls ein Gewitter losbrechen sollte, dastehen werde, ohne auf der Welt einen anderen Schutz zu haben als sechzehn Blitzableiter auf dem Dach, ja dann – –«

»Kein Wort mehr,« schrie ich in wahnsinniger Erregung, »warum pflanzen Sie nicht hundertfünfzig auf? Zehn Stück auf die Küche, ein Dutzend auf die Scheune, ein paar auf die Kuh, einen auf die Köchin! Spicken Sie das ganze unselige Gebäude damit, bis es aussieht wie ein großes, zinkplattiertes, spiralförmig gewundenes, an den Spitzen versilbertes Stachelschwein. Fort ans Werk! Verbrauchen Sie das sämtliche verfügbare Material, und wenn Sie keine Blitzableiter mehr haben, stecken Sie Kolbenstangen auf, Ladestöcke, Wagendeichseln, Meßstangen – kurz alles, was Ihren schrecklichen Hunger nach künstlichen Landschaftsbildern zu stillen vermag, damit mein tobendes Gehirn und meine gemarterte Seele endlich Ruhe und Erlösung finden.«

Völlig ungerührt, lächelte das eiserne Geschöpf nur freundlich, streifte sich die Manschetten vorsorglich zurück und sagte, jetzt wolle er sich dahinter machen, daß es eine Art habe.

Seitdem sind drei Stunden vergangen, und mir scheint, ich habe mich noch immer nicht genügend beruhigt, um mich aufs neue der Staatswirtschaft, meinem hohen Thema, wieder zuzuwenden. Ich kann jedoch dem Wunsch nicht widerstehen, wenigstens einen Versuch zu machen, denn von der ganzen Weisheit der Welt liegt meinem Herzen nichts so nahe, und nichts beschäftigt meinen Verstand so sehr.

»– wirtschaft des Himmels beste Gabe für die Menschheit sei. Als der lockere, aber begabte Byron zu Venedig im Exil war, soll er die Bemerkung gemacht haben, daß, wenn ihm gestattet wäre zurückzukehren und sein vergeudetes Leben von vorn anzufangen, er seine klaren und nüchternen Stunden nicht dazu verwenden wolle, leichtsinnige Reime zu schmieden, sondern Aufsätze über Staatswirtschaft zu schreiben. Washington liebte diese herrliche Wissenschaft, Namen wie Baker, Beckwith, Judson, Smith sind auf ewige Zeiten damit verbunden. Sogar der unsterbliche Homer sagt in dem neunten Buch seiner Iliade:

fiat justitia, ruat coelum
Post mortem unum, ante bellum
Hic jacet hoc, ex-parte res
Politicum e-conomico est.

Der Gedankenreichtum des alten Dichters, verbunden mit der glücklichen Wahl der Worte, in die er seine erhabenen Bilder kleidet, haben diese Verse vor allen anderen berühmt gemacht, welche jemals –«

»Schweigen Sie, sage ich – kein Wort weiter! – Her mit Ihrer Rechnung und dann verschwinden Sie auf ewige Zeiten aus meinem Gesichtskreis. – Neunhundert Dollars? – Ist das alles? – Nun gut, auf diese Anweisung hier wird Ihnen jedes achtbare Bankhaus in Amerika Zahlung leisten. – Aber was bedeutet denn der Volksauflauf unten auf der Straße? – Nach den Blitzableitern wollen die Leute schauen? Du meine Güte! Haben sie denn noch nie im Leben Blitzableiter gesehen? – ›Noch nie einen solchen Haufen auf einem Dach,‹ sagen sie, wenn ich sie recht verstehe. Da muß ich doch einmal hinuntergehen und mir die Menschen betrachten, die eine solche Unkenntnis öffentlich zur Schau tragen.«

Drei Tage später. Wir sind alle in einem Zustand völliger Erschöpfung. Unser Haus, das wie ein Stachelschwein von Blitzableitern starrte, war vierundzwanzig Stunden lang der Gegenstand allgemeinen Staunens und das einzige Stadtgespräch. Die Theater standen leer, denn ihre neuesten szenischen Erfindungen konnten es bei weitem nicht mit meinen Blitzableitern aufnehmen. Tag und Nacht war unsere Straße von Zuschauern belagert; viele fuhren sogar vom Lande herein, um das Schauspiel zu genießen. Endlich am zweiten Tage kam uns glücklicherweise ein Gewitter zu Hilfe. Kaum begann der Blitz auf mein Haus loszugehen, als sich, sozusagen, sämtliche Bänke und Galerien im Handumdrehen leerten. Fünf Minuten später war im Umkreis einer halben Meile von meinem Besitztum kein einziger Zuschauer mehr zu erblicken. In den ferner gelegenen hohen Häusern jedoch drängte sich Kopf an Kopf an den Fenstern, auf den Dächern und überall. Das war auch nicht zu verwundern, denn alle Sternschnuppenfälle und glänzenden Feuerwerke eines Menschenalters zusammengenommen und gleichzeitig in einer ungeheueren Feuergarbe vom Himmel herab gegen ein schutzloses Dach losgelassen, hätten nicht die großartige pyrotechnische Wirkung erzielen können, durch welche mein Haus, mitten in der Dunkelheit, die während des Unwetters herrschte, wie mit Strahlenglanz umleuchtet war. Innerhalb vierzig Minuten schlug der Blitz – ich habe es genau gezählt – siebenhundertvierundsechzigmal in mein Grundstück ein, jedesmal angelockt durch einen der getreuen Blitzableiter. Er glitt an dem spiralförmig gewundenen Eisen entlang und schoß in den Boden, bevor er noch selbst recht wußte, wie ihm geschah. Während dieses ganzen Bombardements wurde mir nur eine einzige Schieferplatte zertrümmert und zwar deshalb, weil sämtliche Blitzableiter der Nachbarschaft in ein und demselben Augenblick alle Blitze, die sie gesammelt hatten, auf uns übertrugen. Seit Anbeginn der Welt war ein ähnliches Schauspiel nie gesehen worden. Während eines ganzen Tages und einer Nacht konnte kein Mitglied meiner Familie den Kopf aus dem Fenster strecken, ohne daß ihm das Haar ausgerissen und er so glatt rasiert wurde, wie eine Billardkugel; daß sich eins von uns hinausgewagt hätte, davon war schon gar nicht die Rede. Endlich wurde aber doch die entsetzliche Belagerung aufgehoben, weil auch keine Spur von Elektrizität mehr in den Wolken über uns vorhanden war, soweit meine unersättlichen Blitzableiter reichen konnten.

Sofort machte ich einen Ausfall, sammelte eine Schar unerschrockener Arbeiter um mich, und kein Bissen Brot kam über unsere Lippen, kein Schlaf in unsere Augen, bevor wir nicht das ganze Gebäude seiner schrecklichen Stachelrüstung entkleidet hatten. Nur drei Blitzableiter blieben auf dem Hause, einer auf der Küche und einer auf dem Scheunendach, wo sie noch heutigentages zu sehen sind. Erst als dieses geschehen war, wagten die Leute es wieder, unsere Straße zu betreten. Beiläufig will ich hier noch bemerken, daß ich während jener entsetzlichen Zeit meinen Aufsatz über die Staatswirtschaft nicht weiter geschrieben habe. Selbst jetzt sind mir Kopf und Nerven noch so angegriffen, daß ich die Arbeit nicht wieder aufnehmen kann.

Für Liebhaber. – Leute, welche dreitausendzweihundertundelf Fuß der besten, zinkplattierten, spiralförmig gewundenen Blitzableiterstangen und sechzehnhunderteinunddreißig versilberte Spitzen verwenden können – alles in leidlichem Zustande und obgleich durch den Gebrauch stark abgenutzt, doch für jeden gewöhnlichen Fall zu benützen – mögen sich zum Abschluß des Geschäfts an den Verfasser dieses Buches wenden.

Veröffentlicht / Quelle: 
Mark Twain, Die 1.000.000 Pfundnote und andere humoristische Erzählungen und Skizzen, Max Hesse Verlag, Leipzig

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