Dort

Bild von Annelie Kelch
Bibliothek

Tief im Novemberwald, wo finst’re Seelen Ewigkeit verheißen,
verbirgt das Laub die flüchtigen Spuren einsamer Wanderer
in der geduldigen verschwiegenen Erde.

Der schwache Baum entlässt das müd gewehte Blatt, das wehmutsvoll
im frischen Wind zu Grabe tanzt: auf Wanderwegen, auf Asphalt, und
mit ihm stirbt der letzte sommerliche Tag, und unter ihm erfleht sich
kleineres Leben Schutz.

... wo auf der Bank im hellen Sommerlicht die junge Alte saß, la femme fatale,
den welken Arm entblößt, den Rock bis zu den Schenkeln hochgebauscht:
Ein warmer Sonnenstrahl liebkoste kühn ihr sehnsuchtsvolles Fleisch.

Mir träumte nachts von Truhen voller Verse, wessen Botschaft?
Ich suchte fieberhaft nach jenem Wort, das mir entfallen war.
Ein Fremder stand ganz nah bei mir und las nach seinem Maß die Zeilen fort.

Nicht jeder hat ein Ziel, will nur nach Hause gehn, der ruhelos das tote Land
durchstreift, wenn unterm dunklen Flügelschlag der Nacht
nur noch ein weit entfernter Mond den ungebet’nen Gast bezeugt.

Wir gehn gedankenschwer und leicht, wir sehn dem Fremden offen ins
Gesicht, der uns entgegenkommt. Wir haben keine Angst, wir gehen
ruhig an ihm vorbei. Wir haben Angst vor leer gefegten Wegen:
Die nahe Stadt im Aug’!

Wenn auch allein, sind wir doch niemals einsam, weil EINER auf uns blickt,
der uns beschützt auf unseren Wegen ‑ durch Leben und durch Sterben,
durch Licht und Finsternis, weil er uns liebt.

Vor einigen Jahren wohnte ich in einer kleinen, so genannten Studentenbude unterm Dach und befand mich gerade in einer etwas wehmütigen Verfassung. Es war Ende Sommer/Anfang Herbst, die Fenster nicht sehr weit geöffnet. Mit einem Mal flog ein Blatt auf meinen kleinen Couchtisch; es sah ein wenig "mitgenommen" aus, als habe der Herbst sich schon daran zu schaffen gemacht. Ich weiß nicht, woher es kam; ich habe dort nie einen Baum im Hof und auch nicht in nächster Nähe gesehen - wer weiß, wie das kleine gelbe Blatt zu mir gefunden hat. Ich nahm es in die Hand und habe es lange verwundert betrachtet. Wenig später ist das Gedicht "Dort" entstanden.

Veröffentlicht / Quelle: 
wahrscheinlich in einer der Anthologien der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte