Ein später Brief an die Mutter

Bild von Willi Grigor
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In deinem Land, in deiner Stadt
hast du das Glück gespürt.
Man es von dir genommen hat,
man dich von dort vertrieb.

Du hast mich auf die Welt gebracht
in einer dunklen Zeit,
- im Krieg, in einer kalten Nacht -
man dann uns weitertrieb.

Wir kamen in ein Nachbarland,
man schob uns hin und her.
Ein Etwas hielt dich an der Hand:
der Überlebenstrieb.

Der Krieg war aus, du hast's geschafft
nach Bayern, in ein Dorf.
Du kriegtest neuen Mut und Kraft,
weil niemand dich hier trieb.

Ich wurde fast ein Bauernkind,
war still und gern allein.
Die Weide ich noch heute find',
zu der die Küh' ich trieb.

Von hier wir bald schon mussten fort,
in eine große Stadt.
Sie war, Mutter, dein letzter Ort,
dein letztes Heim es blieb.

Ich war noch jung, doch wollte weg,
wohin, das wusst ich nicht.
Das Schicksal zeigte mir den Weg,
Das Schicksal m i c h jetzt trieb.

Ich war ein Jahr in Rosenheim,
in mancher and'ren Stadt.
Ich brachte dir nie Blumen heim
und keinen Brief ich schrieb.

Dann wechselte das Land auch ich,
das Leben dies bestimmt.
Es war ein großes Glück für mich:
Die Liebe war's, die trieb.

Wir sahen uns einmal im Jahr,
du, Mutter, und dein Sohn.
Obwohl es immer herzlich war,
viel auf der Strecke blieb.

Dein Blitztod war ein Donnerschlag,
ich spürte ihn in mir
- spür ihn noch heut an manchem Tag -
wie eines Schwertes Hieb.

Nur kurz darauf war ich bei dir,
mit Blumen in der Hand.
Gewissensnot sie gaben mir,
die lange bei mir blieb.

Seitdem ich oft mich fragte
und mir die Augen rieb,
warum ich nie laut sagte:
"Mutter, ich hab dich lieb!"

© Willi Grigor, 2017
Aus dem Leben

Siehe zugehörige Erzählung
literatpro.de/prosa/211118/ein-seelenperlenband

Interne Verweise

Kommentare

13. Mai 2017

Sie hat es bestimmt gewusst, Willi. Mütter spüren das. Sie hat dein Glück gewollt und sich darüber gefreut, dass es dir gut geht. Im nächsten Leben hast du Gelegenheit, es ihr persönlich zu sagen. Vergiss es nicht!

Liebe Grüße,
Annelie

13. Mai 2017

Dein schlechtes Gewissen wollte sie nicht -
Schön schriebst Du nun es per Gedicht ...

LG Axel

13. Mai 2017

Du hast Deine Gedanken an die Mutter so ergreifend geschrieben. Das weckt eigene Gefühle an das ZU SPÄT.
Allerdings wissen Mütter, dass Kinder so sind.
LG Monika

13. Mai 2017

Dein Gedicht berührt mich, Willi. Auch ich habe das Gefühl, den geliebten nicht mehr Lebenden meine Zuneigung nicht zur rechten Zeit auf die richtige Art und Weise mitgeteilt zu haben. Ich habe ihnen nachträglich Briefe geschrieben, das hat mich erleichtert - und versöhnt. Genau so wird es dir mit deinem Gedicht gehen. Das wünsche ich dir jedenfalls. Vielleicht solltest du das "zu" im Titel weglassen.
Liebe Grüße, Marie

13. Mai 2017

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich freue und bedanke mich für die freundlichen Kommentare.
Marie, das "zu" ist weg. Du hast recht!

Herzliche Grüße
Willi