Identität

Bild von Maik Kühn
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Ein kleiner roter Kopf rieb entlang der rauen Fläche und entlud auf halber Strecke seine gesamte Energie. Schnell nahm die hell leuchtende Flamme Besitz von dem Holzstäbchen und führte sich dabei ihre kurze Lebensdauer vor Augen. Doch das Schicksal meinte es gut, denn sie durfte auf den Docht einer Kerze übersiedeln. Angenehmer Bienenwachsduft nahm kurz darauf Besitz von dem gesamten Raum und Carlotta legte das heruntergebrannte Streichholz zufrieden auf den Rand des Kerzentellers. Durch das kleine Dachfenster sah man bereits die ersten Sterne am abendlichen Himmel funkeln.
Hier oben war es sehr beengt, sie konnte gerade noch mit ihren stolzen Einmeterundsiebzig aufrecht stehen. Da es sich um ein recht spitz zulaufendes Dach handelte, begrenzten schnell beide Schrägen die bescheidene Komfortzone. Nebenan befand sich der eigentliche Dachboden mit allerlei Gerümpel, den man von unten über eine ausklappbare Zugtreppe erreichen konnte. Irgendwann vor vielen Jahren hatte Carlottas mittlerweile verstorbener Opa diese kleine Kammer eingerichtet und dank einer Bretterwand mit Tür von dem Rest abgetrennt. Angeblich, um dort ungestört Zigaretten zu rauchen, aber höchst wahrscheinlich benötigte der Mann einfach nur hin und wieder einen etwas abseits gelegenen Rückzugsort, zumal damals gleich drei Generationen gemeinsam in diesem Haus wohnten.
Lange war Carlotta nicht mehr hier oben gewesen, warum auch, denn die Vorteile ihres eigenen Zimmers in der ersten Etage überwogen deutlich. Sie hatte sich inzwischen hingesetzt, vor ihr ein kleiner Tisch, auf dem die gelbe Wabenkerze brannte. Eigentlich gehörte noch eine alte fleckige Matratze zum Inventar, doch der letzte Sperrmüll schuf hier glücklicherweise Abhilfe.
„Alles OK?!“
Es hätte ein Ort der Besinnung werden können, jenseits alltäglicher Routinen, wenn, ja wenn Carlottas Smartphone unten in ihrer Handtasche geblieben wäre. Eine digitale Nachricht, angekündigt durch kurzes Vibrieren, beförderte sie nämlich ruckartig zurück in das hektische Treiben sozialer Netzwerke.
„Sorry, ich bin gerade auf unserem Dachboden und schaue mir den Sternenhimmel an.“
„Wie romantisch …“
Wenig später erschien auf ihrem Display eine regelrechte Galerie mit Fotos zum Thema Sterne.
„Danke!!! Bis später ... ;-)“
Hastig tippte Carlotta die Antwort zu Ende und legte das Gerät wieder beiseite, doch bereits nach wenigen Sekunden meldete es sich erneut. Ohne nachzuschauen, ging sie schließlich genervt offline, was an Schultagen eigentlich nur nachts vorkam.
Ihre Finger suchten auf Brusthöhe vergeblich nach dunkelblonden Strähnen, denn seit gestern wurde die einst wallende Pracht von einer sportlichen Kurzhaarfrisur abgelöst. Carlottas Halskette samt Anhänger in Kreuzform mussten daher als Alternative herhalten.
Jetzt konnte sie endlich beim Anblick der Kerzenflamme ungestört nachdenken. In ihrem Bauch flatterten nämlich kleine Schmetterlinge wild umher und vermittelten eine unmissverständliche Botschaft, aber der Kopf konnte sich einfach noch nicht zu einer positiven Entscheidung für diesen Markus durchringen.

Sie musste wohl beim in sich Hineinhorchen eingeschlafen sein. Da die Kerze deutlich heruntergebrannt war, durfte es bereits Mitternacht oder später gewesen sein. Die richtige Antwort hätte sicherlich ihr Smartphone geben können, dumm nur, dass es offensichtlich nicht mehr an dem Ort war, wo es zuvor abgelegt wurde.
„Ist etwa Constanze hier oben gewesen?“
Constanze hieß die jüngere Schwester und ja, sie lieh sich manchmal auch ungefragt persönliche Dinge von Carlotta ... Ihr Smartphone aber heimlich zu entwenden wäre unverzeihlich, zumal das Gerät aufgrund eines technischen Defektes nicht mehr per PIN geschützt werden konnte, was zwischen den Geschwistern als offenes Geheimnis galt.
Leise schlich sie die Dachbodentreppe hinunter und dann weiter zur ersten Etage, um aus der Kommode im Flur eine kleine Taschenlampe zu entnehmen.
Beinahe lautlos glitt kurz darauf die Tür zu Constanzes Zimmer über den Teppichboden und ein kleiner Lichtkegel leuchtete alles ab, leider erfolglos.
„Vielleicht hat sie es ja unter der Bettdecke versteckt.“
Beim unsanften Freilegen wachte ihre jüngere Schwester dann auf.
„Kann es vielleicht sein, dass du mein Smartphone hast?!“
Völlig unbeeindruckt knipste Constanze die gerade reflexartig eingeschaltete Nachttischlampe wieder aus, deckte sich zu und schlief sofort weiter.
„Na gut, aber direkt morgen früh wirst du mir Rede und Antwort stehen!“
Und wenn der Verdacht unbegründet war? Hatte sie das Gerät am Abend überhaupt mit nach oben genommen? Unsicherheit schlich sich ein, gefolgt von aufkommenden Schuldgefühlen. Eifrig kontrollierte Carlotta daraufhin alle infrage kommenden Aufbewahrungsorte in ihrem eigenen Zimmer. Auch die dort abgelegte Handtasche musste den gesamten Inhalt preisgeben.
Von der erfolglosen Suche sichtlich gefrustet, endete dann schließlich auch ihr Tag, der sich ja eigentlich schon vor ein paar Stunden verabschiedet hatte.

„Nein, bitte nicht …“
Im Eifer der nächtlichen Handyjagd vergaß sie wohl beim Insbettgehen den Wecker zu stellen, was an diesem Morgen die tägliche Vorbereitungszeit um circa zwanzig Minuten verkürzen sollte. Schnell lief Carlotta ins Badezimmer, stellte beim Duschen hinter verschlossener Tür einen persönlichen Rekord auf und ließ zum Abschluss die elektrische Bürste über perfekt positionierte weiße Zähne kreisen. Glücklicherweise lag das Tragen der festen Spange schon Jahre zurück.
Ihre neue Frisur war wirklich sehr praktisch, doch bevor daran herum gestylt werden konnte, musste erst einmal der Rückweg ins Zimmer angetreten werden, denn dort lag bereits das richtige Outfit für den Tag bereit. In ein flauschiges Badetuch gehüllt, schlich Carlotta über den Flur, direkt in die Arme ihres Vaters.
„Kann man sich denn hier nicht einmal in Ruhe fertigmachen?!“
Kommentarlos ging der Mann weiter, weise in der Annahme, seine kürzlich erst volljährig gewordenen Tochter besser nicht beim morgendlichen Aufhübschen zu stören.
Ankleiden, stylen, ein wenig schminken, aber nur Augen und Lippen. Gut, auch Make-up durfte natürlich nicht fehlen, genauso wenig der frisch aufgetragene Lieblingsduft.
„Mein Handy!“
Vor lauter Eile wurde dem verloren gegangenen Smartphone bis zu diesem Zeitpunkt keine Aufmerksamkeit gewidmet, als sich verdächtige von unten emporsteigende Geräusche den Weg bahnten.
„Constanze!!!“
Im Erdgeschoss angekommen, schloss sich direkt vor ihrer Nase die Haustür.
„Dieses Biest!“
Eigentlich war sie gedanklich schon dabei der jüngeren Schwester nachzulaufen, doch fragende Worte ihrer Mutter verhinderten dies.
„Carlotta?! Bist du schon weg?!“
„Hier unten!“
„Carlotta?!“
Eigentlich hörte Mutter doch recht gut … Vielleicht gab es ja ein Ablenkungsgeräusch oder ihre Antwort fiel einfach zu leise aus.
„Ich bin hier unten an der Haustür!!!“
Keinerlei Reaktion.
„Dann halt nicht …“
Um auf Nummer sicher zu gehen, nutze sie Constanzes Abwesenheit und durchsuchte noch einmal schnell das entsprechende Zimmer. Eigentlich konnten die fehlenden zwanzig Minuten bis zu diesem Zeitpunkt gut kompensiert werden, aber jetzt wurde es wirklich eng.
Zwischen Wut und Unsicherheit schwankend, verzichtete Carlotta notgedrungen auf den treuen technischen Begleiter, streifte sich rasch ihre Handtasche

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