Das Leben wird ein Einsehen haben

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Fortsetzung von "In Krottenmühl und Rosenheim"
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"...Ich machte mich auf den Weg zu meinem momentanen
Zuhause, das ich in gut einem Monat wieder verlassen werde.
Die Sonne begann ihr wärmendes Spiel. Meine Gedanken
drehten sich um die Fragen: "Wann werde ich sie finden?
Wo werde ich sie finden? Werde ich sie finden?"

**
Im frühen Herbst 1969 fuhr ich von Rosenheim mit dem Zug wieder zurück nach Düsseldorf, um das letzte Semester meiner Ingenieurausbildung hinter mich zu bringen.
Ich war 26 Jahre alt. So richtig froh war ich nicht, wieder bei den Eltern zu wohnen. Ich ersehnte den Mai herbei, von dem ich wusste, dass er via der Firma Rohrleitungsbau Paul Kahle mich zu einem größeren Projekt nach Irgendwo schicken wird.

Am 16. Februar 1970 fuhr ich, zusammen mit einem erfahrenen Projektleiter, mit dem Zug (erster Klasse, wie immer) nach Ravensburg, nicht weit vom Bodensee. Vom Ravensburger Bahnhof bis zum Restaurant "Zum Engel" ist es nicht weit, sagte der Projektleiter, der sich in Ravensburg bereits gut auskannte. Wir gingen zu Fuß und aßen dann etwas. Am Abend legte ich mich früh in ein Bett des Hotels Obertor. Das Abschiedsfest mit Freunden in Düsseldorf hatte sich noch nicht richtig verabschiedet.

Am nächsten Tag gingen wir zur Firma Escher Wyss. Unser Auftrag war die Projektierung der Rohrleitungen für eine Papiermaschine. Das war Neuland für mich, hatte bisher nur mit Kraftwerken zu tun. Aber der Projektleiter hatte schon mehrere solche Projekte für Escher Wyss abgewickelt, er sollte mich einarbeiten.
Wir wurden freundlich empfangen, im zweiten Stock stand ein Büro für uns bereit. Nach einigen Wochen spürte ich deutlich, dass ich mich nicht richtig wohlfühlte in diesem für mich unbekannten Milieu. Manchmal musste ich raus aus dem Büro um Luft zu schnappen, und gab einen Grund an in die Werkstatt zu gehen. Drei Jahre habe ich auf der Schulbank gesessen. Das kleine Kraftwerkprojekt in Rosenheim während des "Streiksemesters" im vorigen Winterhalbjahr war reiner Urlaub.
Aber es war nicht nur das wieder Hineinkommen in den Beruf. Irgend etwas fehlte meiner Seele, dem Herz. Ich glaubte zu wissen was, nicht aber wer.

Die Liebe war nicht programmiert,
der Optimismus einstudiert.
Bescheiden war die Reisekasse
und trotzdem fuhr er erster Klasse,
vom Arbeitgeber finanziert.

Es war für ihn ein Neubeginn,
ihm war egal wohin, nur hin.
Er hatte Ausbildung und Wille,
ihm fehlten Sicherheit und Stille.
Er suchte seines Lebens Sinn.

Er wollte Harmonie im Leben,
hoffte stark es wird sie geben.
Der erste Eindruck dann am Ziel
ihm offensichtlich nicht gefiel.
Er lag seelisch schräg daneben...

Auf der Mittagspause machte ich meistens einen Spaziergang, kaufte mir ein Wurstbrötchen und einen Apfel. Einmal, auf der Treppe nach unten, ging ich gleichzeitig mit einer jungen Frau die Stufen hinunter. Wir schauten uns an, ich versuchte etwas zu sagen. Sie war schneller und sagte: "Guten Mittag". Ich merkte, dass sie kein reines Deutsch sprach. Ich antwortete: "Danke. Ich bin auf dem Weg zu meinem Arbeitsmittagsspaziergang." Sie: "Arbeits..., was?" Ich: "Das erkläre ich Ihnen, wenn wir uns wieder an dieser Treppe begegnen." Sie bog ein in einen Gang, ich ging durch die Tür, brauchte Luft.

In "unserem" Büro war noch ein weiterer Mann, Wolfgang. Auch er war ein junger, eingeliehener Ingenieur, aus Wolfenbüttel in Niedersachsen. Ein Typ, der gerne lachte, mit dem man hätte Pferde stehlen können (was wir auch taten, allerdings war das Pferd ein Bierfass). Er hat mir gezeigt, wie man in einer Schreibtischschublade Sauermilch (Dickmilch) herstellen kann. Wir aßen sie fast jeden Tag zum Frühstück. Einmal hat er dabei einen Liter Milch in der Schublade ausgeschüttet. Einige Zeichnungen mussten neu kopiert werden.
Mit Wolfgang sprach ich über die junge Frau, die ich im Treppenhaus traf, und deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Wolfgang war schon etwas länger hier bei Escher Wyss. Er kannte die junge Frau, sie heißt Gullan, ist eine schwedische technische Zeichnerin. Sie hat sich bei Escher Wyss für ein Jahr beworben, mehr oder weniger deshalb, um die deutsche Sprache besser zu beherrschen. Im Herbst fährt sie wieder nach Hause.
Wolfgang ging noch einen Schritt weiter. Er informierte mich, dass in einem anderen Büro auch ein Schwede für ein Projekt arbeitet, er heißt Hans-Erik. Er kennt diese Frau. Sie kannten sich flüchtig von der großen Firma KMW in Karlstad, wo beide einige Jahre arbeiteten. Und hier in Ravensburg haben sie sich jetzt wieder getroffen.

Die Welt ist klein. Mein Kopf drehte sich.

Nach Feierabend ging ich wie immer über die Fußgängerbrücke, die sich über mehrere Eisenbahngleise streckte. Mittlerweile war der April dem Mai nahegekommen, er zeigte, wie freundlich warm er sein kann. Da sah ich wie Gullan, zusammen mit einem relativ kleinen Mann, parallel mit den Gleisen gingen. "Das ist Hans-Erik!" dachte ich bestimmt. Es war warm, Ende April. Gullan trug einen roten Minirock. Ich eine Art Wehmut.

Dennoch, meine Spaziergänge an den Wochenenden gaben mir Kraft und Freude. Ravensburg ist eine liebenswerte Stadt. Ihre gut erhaltenen mittelalterlichen Türme, Tore und Patrizierhäuser erinnerten mich an meine "Lieblingsstadt" Dinkelsbühl. Im nah gelegenen Bauerndorf Segringen verbrachte ich eine schöne Kindheitszeit von 1945 bis 1951.
Der geruhsame Gang zum Flappachweiher - vier Kilometer von Ravensburg entfernt - und das Verweilen bei ihm war guttuend.

Nur kurz nachdem ich Gullan im Treppenhaus traf, bekam ich Kontakt mit dem Schweden Hans-Erik, ein fröhlicher, schmal gebauter Mann. Ein unerwartetes Zusammentreffen mit ihm sollte später mein ganzes Leben umkrempeln.
Am 8. Mai 1970 ging ich nach der Arbeit in das Gasthaus Meckatzer, um ein Bier zu trinken. Hans-Erik stand schon an der Theke, ein Zufall. Hier hatten wir die Gelegenheit, uns etwas kennenzulernen. Er ist ein Spaßmensch, ich eigentlich auch, aber nicht immer. Wir kamen auf Frauen zu sprechen. Es war offensichtlich, dass Hans-Erik seine Frau und den kleinen Sohn vermisste. Die spaßigen Einlagen halfen ihm. Ich verstand nicht, warum er manchmal mit dem Fuß nach hinten kratzte wie ein Pferd und dabei lachte. Ich bekam den Einfall, ihm einen neuen Namen zu geben und fragte: trinken wir noch ein drittes Glas, Horse-Erik? Er lachte und sagte: dann aber ein schnelles, ich habe ein Treffen mit Gullan im Gasthof Obertor, prost! Dann bekam er eine Idee: Du kannst doch mitkommen. Sie hat garantiert nichts dagegen.
Ich ging mit - und war erleichtert zu wissen, dass "Horse"-Erik verheiratet ist und ein kleines Kind

© Willi Grigor, 2022

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