Die Theorie der Reste

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Die Theorie der Reste

Das Lösen von Problemen verengt das Leben.

Erstens. Zuerst ist da ein Problem, ein Unbehagen, das eine Reizschwelle überschreitet.

Zweitens. Das, was in das Bewußtsein aufsteigt, wird als Problemstellung, als zu lösendes Problem bewußt, wodurch es bereits reduziert wird, da nicht der Gesamtanlaß - das Unbehagen - formulierbar ist, sondern nur soweit, soweit die Sprache - der Geist - dazu geeignet und in der Lage ist. Erste Reduktion des Anlasses - die Bewußtmachung.

Drittens. Das bewußt gemachte - körperlich materielle oder geistige - Unbehagen wird als nächstes als zu lösendes Problem formuliert, als Fragenkomplex, wobei noch nicht geklärt ist, welcher Teil des Fragenkomplexes vor allem gelöst werden muß, damit das Problem so weit wie möglich beseitigt ist, wobei also der Lösungsweg noch nicht geklärt ist. Zweite Reduktion des Anlasses - die Formulierung des Fragenkomplexes.
Punkt drei ist auch als Vorgang aufzufassen, in dem der Punkt zwei in wissenschaftlich zugängliche, prinzipiell lösbare Fragestellung gebracht wird.

Viertens. Das Unbehagen - Punkt eins - wird in der bereits zweifach reduzierten Form als Fragestellung von Punkt drei behandelt und erfolgreich gelöst. Es wird eine Lösung gefunden, die soweit befriedigt, daß das Unbehagen verschwindet oder zumindest hintangestellt werden kann. Dritte Reduktion des Anlasses - die Lösung erfüllt die Problemstellung nur soweit nötig.

Diese Entwicklungskette zeigt, daß ein komplexer Anlaß, ein Unbehagen usw, der so weit angewachsen ist, daß er in Punkt Eins zur Aktivität drängt, nach mehrmaliger Reduktion infolge der Umwandlung seiner Information in ihren Maximumwert, durch den Lösungsvorgang in Punkt vier so weit gelöst worden ist, daß er nicht mehr akut ist.

Gegen diesen Problemlösungsablauf ist prinzipiell nichts einzuwenden, doch die Problemlösung in den Stufen eins bis vier beseitigt in der Regel nur die gröbsten Unzulänglichkeiten, damit es wenigstens weitergehen kann. Derartige Problemlösungen haben zur Folge, daß ein Problem als gelöst betrachtet und vergessen wird, ohne zu wissen, daß man es durch seine Lösung nur verschoben hat und daß es unweigerlich wieder auftauchen wird, ohne zu wissen, daß man ein Problem durch seine Lösung nur so weit erträglich gemacht hat, daß es unter die Bewußtheitsgrenze gesunken ist, unter seine Akutheitsschranke.

Das Lösen von Problemen durchläuft immer die Stufen eins bis vier, beseitigt ein Problem nur soweit, soweit dies zur Zeit erforderlich ist und deshalb wird das Problem wieder auftauchen. Also darf durch die Lösung eines Problems das Problem selbst nicht vergessen werden, nicht als endgültig gelöst ad acta gelegt werden.

So entstand vor 200 Jahren die Demokratie aus einem massiven Unbehagen in der feudalistischen Gesellschaft, philosophisch formuliert, wissenschaftlich fragegestellt und politisch gelöst mit Parlamentarismus, Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, Menschenrechte usw. Heute wundert man sich über ein neues Unbehagen, obwohl doch alles so herrlich gelöst worden war. Der Parlamentarismus löste das Problem eben nur insoweit, daß zu seiner Zeit das Unbehagen unter die Akutheitsschranke sank, nach Feudalismus, Absolutismus usw. Der Glaube an die Lösung des Problems hat das Problem selbst aus dem Bewußtsein verdrängt, sodaß hinter dieser Verdrängung und Verschleierung gar noch größere Unterdrückung und Ausbeutung möglich wurde, als zuvor. Die mit dem Parlamentarismus vorgespiegelte Problemlösung verhindert eine Beschäftigung mit der alten Problemstellung - sie galt ja als gelöst. Wenn jetzt das Unbehagen wieder die Akutheitsgrenze übersteigt, kommt es erneut in die Formulierungsphase und so wird relativ spät wieder klar, daß es das alte, gelöste Problem ist, das da wieder auftaucht, daß seine Lösung in der heutigen Zeit keine mehr ist, eher das Gegenteil. Der Glaube, ein Problem gelöst zu haben, verhindert, seine Lösung dem Stand der Zeit anzupassen.

So funktioniert jede Lösung. Eine Lösung darf die alte, vorwissenschaftliche Fragestellung nicht verdrängen, das Problem muß weiterhin in Behandlung bleiben. Ein gefundenes Medikament verhindert oft die weitere Forschung an einer Krankheit. Die erste Lösung verhindert den weiteren Fortschritt.

So geht es mit Demokratie, Sozialismus, Philosophie, Technik. Hoch geschätzt seien die Pioniere Rousseau, Marx, Darwin weiterhin. Deshalb darf aber nicht alles beim Alten bleiben. Ein Problem muß immer wieder vom Neuen gelöst werden.

Das Ende von hundert gelösten Problemen ist ein völlig verbildetes Bewußtsein, denn wenn alles im Sinn von Punkt vier gelöst ist, dann liegt jedes Unbehagen unter der Akutheitsgrenze. Diffuses Unbehagen, diffuse Angst ist die Folge. Deshalb muß die zu jeder Lösung gehörige vorwissenschaftliche Fragestellung ermittelt, ins Bewußtsein gebracht werden, um klar zu machen, welcher Teil des zugrunde liegenden Unbehagens nicht erfüllt worden ist, welcher Rest unter der Akutheitsgrenze blieb, um schließlich die Summe aller Unbehagens-Reste, den ungeheuren Berg der Problemreste zu erkennen und welch kärglich absonderliches Gebilde das System unserer Lösungen in Wirklichkeit ist, auf welch abstruse Art und Weise unter Aufbietung aller Kräfte gerade noch die notwendigsten Erfordernisse des Lebens befriedigt werden und nicht einmal die und schon gar nicht optimal.

Die verschiedenen Systeme müssen nach der Summe der Reste, die ihre Lösungen aussparen, beurteilt werden. Dabei gibt es nicht einmal einen Wertekodex für die einzelnen Reste. Sie sind nur gewichtbar, soweit sie Quell neuen Unbehagens sind, sodaß sie eine Erneuerung des bestehenden Lösungssystems erfordern, die aber, wenn Erneuerung nicht möglich ist, Anlaß zur Verstümmelung und Domestizierung des Lebens werden, weil sich ein überfälliges Lösungssystem nicht anders behaupten kann. Es kämpft bis zuletzt um sein Bestehen.

Die völlige Erneuerung, Reformierbarkeit, Evolution eines tradierten, alten Lösungssystems ist äußerst unwahrscheinlich und führt zu ptolemäischen Konstrukten. Besser das Wissen neu organisieren und Kopernikus zum Zuge kommen lassen. Wo alles für die, die es betrifft, unverständlich, zu kompliziert wird, ist Verschleierung, Manipulation, Schamanentum im Spiel.

In zweckfreier Forschung müssen die alten Fragestellungen der Menschheit wieder ans Licht gebracht werden, so wie sie dastanden, bevor das wissenschaftliche Zeitalter sie in rational lösbare Einheiten zerschnitt. Es muß der ungeheure Rest erkannt werden, den Kultur und Zivilisation auf die Menschen häuft. Der Christ muß die vorchristliche und nicht-christliche Problematik studieren, der Marxist die vor- und nicht-marxistische, um zwei Protagonisten der westlichen Menschheit beim Namen zu nennen.

Interne Verweise

Kommentare

10. Dez 2020

schließe mich an!

Gruß
Alf

10. Dez 2020

Danke fürs Lesen –
und wenn es dann auch noch gefällt, ganz besonders.
LG Karl