Text 169: Ein Briefroman

Bild von Klaus Mattes
Bibliothek

„In meiner Seele ist schon Herbst“ schleudert seinerseits Blitze auf Benno, den Sperrspitz. Nämlich Benno fand das Büchlein zu schwülstig, allenfalls als Fundstelle für blitzende Formulierungen brauchbar, die man irgendwann irgendwo dann anbringen könne. Eine Sorte Formulierungen, wie man sie von Thomas Lucke zu hören kriegt, während man (elegant und formvollendet) beiseite geschoben wird.

Den „Garten der toten Bäume“ kannst du lesen, du kannst es ebensogut lassen. „In meiner Seele ist schon Herbst“ sollst du lesen! (Ich bring’s am Wochenende in die Bibliothek zurück.) Das ist noch mal der gute, alte Detlev Meyer.

Tut da, als würde er sich an Tage der Gymnasiastenzeit zurückerinnern, als er zum ersten Mal verliebt war, doch auf keinen Fall schwul werden wollte. Ein Briefroman. Briefe, welche eine Jugendausgabe seines uns anderwärtig bekannten Alter Egos, Dorn, schmachtend einem anderen Jüngling schreibt, der ihn aber abblitzen lässt. Darum nimmt er sich einen weiteren, geht mit jenem nun auch ins Bett. Also ist dieses Buch da zu Ende. Briefe sind nicht länger erforderlich. Von der Handlung her ist es altbekannt und belanglos. Was zählt, ist Detlev Meyers Stil. Er fingiert sich einen Gymnasiasten, der mehr oder weniger das gesamte Werk von Goethe, Fontane, Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse, vor allem auch Stefan George intus hat, daneben hört er Rolling Stones. Die Sprachblüten, die dieser Knabe wachsen lässt, können George und Rilke dann das Wasser auch reichen.

Ein Eindruck wie von Gernhardt oder Henscheid: Sie fühlen sich, als wäre alle große Literatur schon geschrieben. Auch sie würden gern schreiben wie Eichendorff oder George, dürfen es aber nicht mehr. Sie probieren, ob sie es handwerklich können, finden, sie können es schon auch. Da machen sie es einfach, obwohl es das Ende vom zwanzigsten Jahrhundert ist. Somit schwingt ein Unterton von Ironie und Fake immer mit.

Gefühl für dergleichen hat Benno nun nicht. Wo er die Vorbilder, die Meyer und dessen junger Dorn im Ohr haben, nicht gelesen hat, auf elitären Ton grundsätzlich nicht abfährt. Benno meint, es ginge um Inhalte, um die Handlung, die Schülerliebelei. Außerdem zog er drüber her, weil er meinte, es wäre Literatur, wie du sie schätzt. Da putzt er das Buch statt deiner runter.

Trotz aller Spielerei hat Meyer ein paar Sachen von dem Gymnasiastenalter gut eingefangen. So der Größenwahn, leben zu müssen unter lachhaften Eltern, Lehrern, Mitschülern, ein extrem starkes Leiden an der Schule, die natürlich zu den übelsten der Welt gehört. Probleme hat Dorn Junior eigentlich keine. Außer seiner Eitelkeit. Die Eitelkeit muss für den jungen Meyer ein Problem gewesen sein. Dorn stellt sich nackt vor den Spiegel, wenn er wichst, ist untröstlich, dass er nie einen Zweiten finden wird, der auch so schön ist. (Ein Problem, das ich niemals hatte. Man weiß immer nicht, wie gut es einem selbst geht.) Dorns Blick ins Leben und dort sieht er voraus, dass er ein gefeierter Nationaldichter werden wird.

Solange er der Einzige bleibt, der glaubt, dass er dieser Sonderfall ist, macht er seine Kunst, produziert er die Rilke-George-Sprühsahne und seine Briefe, die das Buch doch ausmachen. Dann taucht aber ein Realschüler, fünfzehnjährig, auf, Dorn ist schon älter, der sich für Bücher nicht interessiert, ihn aber in eine Klappe hinein lockt, später ins Bett. Das Ende der literarischen Kunst. Kunst oder Leben? Beides zusammen kriegst du nicht.

Was mir hier nicht behagte: Sein Angehimmelter bleibt äußerst blass. Detlev Meyer gibt uns keinen einzigen Brief von ihm. Der Dorn ist so eitel, dass er sich immer nur mit sich und seinen Dichtern beschäftigt, seinen Auftrag darin sieht, beides diesem Geliebten zu erklären. Wenn hier Stile aufeinanderprallen würden, wäre das vergnüglicher.

„In meiner Seele ist schon Herbst“ liest sich in weniger als drei Stunden und wie von selber. Ich habe es ausprobiert auf meiner Schönes-Wochenende-Reise nach Bayreuth. Vor Bamberg war ich bereits durch. Nach Bayreuth, zur Markgräfin Wilhelmine solltest du auch fahren! Sehr schön. Das prächtige hölzerne Opernhaus und am östlichen Stadtrand die Gartenkunstanlage „Eremitage“. (Der Rest ist eher hübsche Provinz.)

Es regnete. Ich saß im Stadtbus, ganz hinten, Rückbank. Vor mir ein Vater (Proll) mit dem (vermutlich) Sohn (etwa 15). Beide waren sie hässlich und total doof. Die ganze Fahrt über fingerte der Alte irgendwas am Sohne, besonders des Buben Hals schien ihn anzuregen. Der Sohn versuchte immer wieder auszuweichen. Er hatte, im Gegensatz zum Alten, bemerkt, dass hinter ihnen noch einer saß. Als der Vater das auch noch raffte, guckte er mich misstrauisch und hasserfüllt an. Ich musste beim Aussteigen wieder umkehren, weil ich meinen Schirm hatte liegen lassen, dazu spuckte der Mann eine mir unverständliche Hassbemerkung aus.

> „Vulcano“ und Künstlertum gehen nicht zusammen. Im Journalismus-Seminar hast du gesagt bekommen, was das Maß darstellt.
Das ist eine einjährige Schulung für PR-Journalisten gewsen. Man stelle sich Leute vor, welche ihr Fachpublikum über die Neuerscheinungen am Markt für Wärmepumpentechnologie ins Bild setzen. Heißt: die eingeschickten Texte von im Heft inserierenden Firmen für den Leser konsumierbar machen. Eigentlich doch, was bei „Vulcano“ ständig passiert.

T 170: Vulcano
Wenn ich ihre Texte über die neue Heiligbrunner Schwulengruppe (sie besteht aus vier Leuten und sie flaniert jeden Abend im Stadtpark) und deren Anführer bzw. das Lokal, in welchem der arbeitet, lese. (Oder gearbeitet hat, er könnte doch nicht Abend für Abend im Park flanieren, wenn er es noch täte). Bis vor kurzem kannte ich den Menschen noch nicht. Muss irgendwie aufgepoppt sein. Passt aber gut ins Terrain. Charly Muth, den anderen von den beiden Gruppenbegründern, kenne ich schon Jahre. Ed gab dieses Szeneblättchen - nur für unsere hiesige kleine Gemeinde - heraus, die mal diesen Protestbrief ans Vulcano schrieben. Knapp umrissen: Muth ist die tückische Trümmertunte, die sich ertragen lässt, gewisse Formen und Spielregeln beim machiavellistischen Vorgehen ja durchaus noch einhält.

Wenn ein Blatt sich halt nie geeinigt hat, für wen es produziert wird und was es sagen möchte, muss denn ich, dessen individueller Natur das zuwider läuft, einen Konsens freiwillig vorweg- und auf mich nehmen, nach welchem ich gehalten sei, anderthalbseitige Häpplein zu schreiben die von jedem Sonderschüler kapiert werden, deren Inhalte sich auf Aktionen und Sonderangebote der Szene stürzen (Kneipen, Discos, Saunen, Sexshops, Kinos), wobei sie ohne Ausnahme positiv dargestellt werden müssen, das gesamte Elaborat von einer Woge aus Fröhlichkeit und Optimismus getränkt sein muss? Muss ich denken, dass wir doch alle Ende zwanzig, Anfang dreißig sind und auf Boys Ende zwanzig, Anfang dreißig abfahren?

Oder habe ich die Chance, einen Freiraum zu erkennen, den es sonst nirgendwo gibt? Weil es keine Chefs gibt, kann mir da keiner was vorschreiben. Weil eben alle Amateure sind, darf ich für mich definieren, wie Journalismus zu gehen hat.

(Guggemada! Ingoutch liefert dieses Mal eine höchst private Ich-und-meine-Sexerlebnisse-Geschichte! Von welcher jetzt aber keiner sagen wird, sie sei „wenig allgemeingültig“ und eher „eitel“!) Weil kein Leser mir was zahlt, muss ich nicht auf Teufel komm raus nach Schnauze des hypothetischen Durchschnittslesers texten. Spätes Lob bei der GOC-Frankenexkursion. Ein Neuzugang meinte, Pierrot Nevers habe er gern gelesen, inzwischen vermisse er den.

Es ist Unterschied zwischen Kunst und Journalismus, dass Journalismus klar hinschreibt, was es mitteilen möchte, während Kunst fast keine ist, wenn alles schon auf der Hand liegt für alle. Dass ich gegen die Gesetze des Journalismus verstoßen habe, war mir schon klar. An Kollegen vorbei habe ich Gesetzesverstöße ins Blatt geschmuggelt. Darauf kam es bei einem Blatt nicht an, das vor Verstößen überfloss. Hast du die niedlichen Grammatikfehler in der neuen Ausgabe bemerkt?

Diskutieren ist da zwecklos. Stehe auf dem Standpunkt, dass zu viele Dummbeutel in Vulcano zu oft zu viel zu sagen haben. Natürlich werden Dummbeutel ebensolchen Kalibers ihre Dummbeutel-Produkte dann gigantisch finden.

> Künstler, der sich um den potenziellen Leser einen Dreck kümmert?
Auf „Vulcano“ und mich übertragen, stimmt das aber nicht. Habe zum Beispiel Fremdwörter (so in der Journalistenschule gelernt) vermieden, erst in späterer Zeit sie wieder eingesetzt, als bewussten Regelverstoß jeweils, mit einem gewissen Spaß. Wenn ich wollte, könnte ich mit Fachsprache um mich werfen, dass es rauscht. Was Krücklein im Internet als „Doktors Sprechstunde“ abzieht, da käme ich allerdings nicht ganz ran.

Man kann als Leser doch vorher sehen, wie viel Text ein Artikel enthält. Soll man’s lassen, wenn’s einem zu viele Buchstaben sind! Man soll so schreiben, dass es ein zwölfjähriger Sonderschüler, der sich Mühe gibt, versteht. Aber man soll nicht anfangen zu denken, als tappse man unter zwölfjährigen Sonderschülern umher! Ich war nicht jener, der meinte, man solle schreiben, als würde man Geheimrat Goethe schreiben, Höflichkeit dem Leser gegenüber gebiete das.

>> Bücher über Schwule schreiben, die Schwule denunzieren.
Homos kennen Homos besser als Heteros es tun. Wer sich im Kultursektor umtut, braucht eine heterosexuelle Mehrheit unter seinen Rezipienten. Sonst kann er verhungern. Das Publikum goutiert es eher, wenn Geschichten erzählen, was es sich selbst gedacht hatte. Wenn ich einer Masse von Heteros über Homos erzähle, muss das Allermeiste davon dem entsprechen, was Heteros über Homos eh schon denken. Sonst halten sie es nur für In-Group-Klamauk, kehren uns den Rücken. Jene zehn Prozent hast du noch, ihnen das schwer Fassbare zu verklickern. Nachher wird einer es ein „schonungslos ehrliches Buch, erschütternde Zeugnisse“ nennen.

Die vor Hitler geflohenen Juden mussten im Hollywoodkino Dumpfdeutsche und Mörder darstellen. Guck dir „Die jungen Rebellen“ von deinem Sándor Márai an! Da will er was über Liebe von einem zum anderen Jungen schreiben. Es geht aber nur, wenn dazu der schmierige, sadistische Jugendverderber aufs Tapet kommt. In diesem Falle ein Schauspieler, Benno wäre mal entzückt.

>> Von Herbsten, Blättern, Bäumen gibt es Millionen, es kommt alles wieder.
> Aus einem Werk, das ich kennen sollte?
Nee. Das ist ein angegammelter Gedanke von mir. Der kam einst, als ich in kalter Novembernacht unter einem der schönen, hohen Laubbäume des hiesigen Parkgeländs einsam auf der Bank saß.

Vier Wochen ist es nun her, dass ich am Telefon von meiner Mutter hörte, dass bei meinem Vater ein inoperabler Gehirntumor, ein sogenanntes Glioblastom, diagnostiziert wurde. Da kam mir das Blatt-vom-Baum-Bild in den Sinn. Literarisch wohl ein abgedroschenes Motiv.

Fußt auch noch auf einen Song der Schweizer Mundartpopband „Rumpelstilz“, aus den siebziger Jahren: „Na, na, na, na, i bin es Blatt im Wind, wenn er rueft, dann muess i go.“ Der Oberrumpelstilzler hieß Polo (Paul) Hofer und war ein Berner. Alle Schweizer Musiker sind ja Berner. Er tut sich noch immer um, dieser Polo, wenn auch mit einer höheren Peinlichkeitsrate.

Vorerst eine Woche des roten Horrors noch. Dann mein Urlaub.
Gruß von
Rolf