Lyde

eine Erzählung.

Euer Beyfall macht mich freyer, Mädgen, hört ein neues Lied. Doch verzeyht, wenn meine Leyer Nicht von jenem heil’gen Feuer
Der geweyhten Dichter glüht.

Hört von mir, was wenig wissen,
Hört’s, und denket nach dabey: Daß, wenn zwey sich zärtlich küssen, Gern sich sehn, und ungern missen,
Es nicht stets aus Liebe sey.
Lyde brannt’ von einem Blikke Für Aminen, er für sie; Doch ein wiedriges Geschikke Hinderte noch beyder Glükke,
Ihre Aeltern schliefen nie.

Wachsamkeit wird euch nichts taugen,
Wenn die Töchter unser sind; Aeltern habet hundert Augen, Mädgen, wenn sie List gebrauchen,
Machen hundert Augen blind.
Listig hoft sie eine Stunde Ihre Wächter los zu seyn. Endlich kommt die Schäferstunde, Und von ihrem heissen Munde
Saugt Amin die Wollust ein.

So genoß entfernt vom Neide
Er noch manchen süssen Kuß. Doch er ward so vieler Beute Ueberdrüssig. Jede Freude
Endigt sich mit dem Genuß.
Ist wohl bey des Blutes Wallen, Denkt er immer Liebe da? Liebt sie mich denn wohl vor allen? Oder hab ich ihr gefallen?
Weil sie mich am ersten sah?

Einst spricht er, dieß auszuspüren:
Ach, wie quält mein Vater mich! Fern soll ich die Heerde führen - Himmel! Dich soll ich verlieren!
Ha! Das Leben eh’r als dich.
Liebste, nein, ich komme wieder, Doch, der beste Freund von mir, [Hier sah sie zur Erde nieder] Singet angenehme Lieder,
Diesen Freund, den laß ich dir.

Lyde denkt an keine Tükke,
Weint, und geht es weinend ein. Ungern flieht Amin sein Glükke, Listig bleibt der Freund zurükke,
Oft ist er mit ihr allein.
Viel singt er von Glut und Liebe, Sie wird feurig, er wird kühn. Sie empfindet neue Triebe, Und Gelegenheit macht Diebe.
Endlich - Gute Nacht, Amin.

Kinder, seht, da müsst ihr wachen,
Euch vom Irrthum zu befreyn. Glaubet nie den Schein der Sachen, Sucht euch ja gewiß zu machen,
Eh’ ihr glaubt geliebt zu seyn.

Veröffentlicht / Quelle: 
Johann Wolfgang Goethe Annette, 2. Aufl., Faksimile-Neudruck der Ausgabe Leipzig 1767. Frankfurt a.M.: Insel-Verlag, 1965.