Der Jüdische Friedhof zu W.

Bild von Anner Griem
Bibliothek

Der Weg steilauf,
Entlang zwischen
Waldessaum und Feldrain,
Durch hohle Melasse führend,
Eingeschnitten geradeaus.
Die letzten Häuser liegen
Verborgen hinter Land,
Bäume und Büsche umsäumen
Meine Gedanken.

Von der Glut der Straße erhitzt,
Empfängt mich hier
Ein kühler Hauch.
Zwei Finken begleiten mich,
Munter tirilierend,
Als Boten einer anderen Welt.
Wie viel Zweifel,
Wie viel Hoffnung,
Wie viel Last,
Mögen hier in diesem
Kühlen Hohl, ihren Weg
Gegangen  sein?

Links abbiegend,
Nochmals leicht ansteigend,
Gegen West, den Hang nach
Oben, Brennnessel und Holunder
Halten ihn, führt der Weg
Hinan zum Friedhof der Juden.
Noch ein paar Schritte,
Noch eine leichte Biege,
Rechts, über die Furche im Gras.
Der Himmel, er öffnet sich,
Mit seinem mittagsblauen Felde.
Die Sonne, auch sie geht mit,
Bricht sich zwischen den Zweigen.
Das Tor, da vorne, ganz nah.

Verweilend, tief atmend, an die
Friedhofumsäumende Mauer
Gelehnt, verharre ich, schaue.
Das Feld der Grabesstätte,
Von Efeu umrankt, steigt es
Nach Osten hin leicht an.
Mein Blick zwischen den Reihen,
Frei und doch verstellt,
Es stört nicht die gebeugte
Stehle oder der Grabesstein,
Die geschunden und altersschwach,
Der Erde entgegen, in die Zeilen lugen.
Die Gedanken sind‘s, die Steine
Mir in den Weg legen.
Können Gebeine lebendig werden?

Das kleine Tor öffnend,
Trete ich ein, es hinter mir
Schließend. Setze erste Schritte,
Behutsam, ich bin Gast.
Die Toten mahnen zu Respekt,
Sollte ich meinen Kopf bedecken?

Dort das erste Grab, halb in der
Erde versunken, halb so,
Als wolle es nochmals den Himmel
Schauen. So, als wolle es sagen,
reiche mir deine Hand, hilf mir empor.
Der Gerechte sprosse wie der Palmenbaum
Erschrecke, warum dieser Gedanke?
Setze, absichtlich?, meine Schritte fort.
Dort, ich lese und erinnere, er war Arzt,
Da unten in dem Dorfe am See. Danach,
die Synagoge zu Asche verfallen, Emigrant.
Später, als sie verschwunden, Arzt und
Bürgermeister, die Last tragend bis hierher,
Dem Hofe der Unendlichruhe.
Ob sie es ihm Gedankt haben,
dem letzten Juden des Dorfes?
Kleine Steine bedecken sein Haupt,
Seine Gemahlin, gleichermaßen bedacht.

Weiter oben, mehr links zum Norden hin,
Mutter, Vater, Sohn, ein kleiner Baum,
Versucht sich im Leben aus dem Tode,
Ragt aus des Sohnes Grab.
1947 lese ich, mein Lebensbeginn,
Er wurde Sechsunddreißig.
Was mag ihm wiederfahren sein?
Wo lag er, als ich im Kindsbett lag?
Wärmten ihn liebende Hände?
Ich stehe und verweile.

Beklommenheit ermächtigt sich meiner,
Muss gehen, um später wiederzukehren.
Nehme meine Gedanken mit auf den Weg,
Schließe behutsam das Tor, hinter mir
Das Gewesene.

Vor mir reifen die Äpfel, ein
Schlehenbusch, ein Feld umsäumend,
Tröstet mich, als Kind habe ich gerne
An ihm genascht

Anmerkung:
Der Palmenbaum spielt auf den Psalm 92,13 an:
Der Gerechte sproßt wie der Palmenbaum
Ich hatte einige Wochen vorher in dem Buch
von Elie Kedourie DIE JÜDISCHE WELT gelesen und geblättert und bin an dem Triptychon von Isaak Aboab stehen geblieben, in dessen mittleren Darstellung eine Palme abgebildet ist. Darunter der im Gedicht genannte Psalm. Bewusst war es mir nicht. Kam mir aber in der meinem Gedicht beinhaltende Verszeile, dort an diesem Grab, plötzlich in den Sinn.

Interne Verweise