Ich lebe mein Leben

Bild zeigt Rainer Maria Rilke
von Rainer Maria Rilke

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.

Veröffentlicht / Quelle: 
SILHOUETTE Literatur - International; No.12/1981
Bild zeigt Rilke und Gedicht Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen

Gedichtanalyse: „Ich lebe mein Leben“ von Rainer Maria Rilke

Einleitung

Rainer Maria Rilkes Gedicht „Ich lebe mein Leben“ wurde 1899 verfasst und zählt zu seinen frühen Werken. Es thematisiert das Leben als einen stetigen, nicht abgeschlossenen Entwicklungsprozess und drückt eine meditative Haltung gegenüber der Existenz aus. Mit seiner bildhaften Sprache und seinen universellen Fragestellungen lädt das Gedicht zu einer tiefen Reflexion über das menschliche Leben und dessen Ziel ein. Die folgende Analyse betrachtet Inhalt, Form, sprachliche Mittel und die Botschaft des Gedichts.


Inhaltliche Analyse

Das Gedicht beschreibt das Leben als eine Abfolge „wachsender Ringe“, die stetig größer werden und die Welt durchdringen. Rilke thematisiert die Unvollkommenheit des menschlichen Lebens, indem er darauf hinweist, dass der „letzte Ring“ vielleicht nie vollendet wird. Dennoch ist der Versuch, diese Entwicklung voranzutreiben, zentral für das Leben.

In der zweiten Strophe wechselt der Fokus von der Metapher der Ringe zur Vorstellung eines „uralten Turms“, um den das lyrische Ich kreist. Der Turm symbolisiert das Göttliche oder eine universelle Wahrheit, der sich der Mensch annähern möchte. Der Schluss des Gedichts stellt eine offene Frage: Ist der Mensch ein Falke, ein Sturm oder ein „großer Gesang“? Diese Frage bleibt unbeantwortet und spiegelt die Unsicherheit und Vielschichtigkeit der menschlichen Identität wider.


Formale Analyse

1. Struktur:
Das Gedicht besteht aus zwei Strophen mit jeweils vier Versen (Quartetten). Die klare Struktur verleiht dem Gedicht eine harmonische Form und unterstreicht dessen meditativen Charakter.

2. Reimschema:
Das Gedicht weist kein festes Reimschema auf, was seine Offenheit und Freiheit in der Aussage verstärkt. Diese formale Ungebundenheit spiegelt die dynamische und unabschließbare Natur des Lebens wider.

3. Metrum:
Rilke verwendet ein freies Metrum, das den fließenden Gedanken des lyrischen Ichs entspricht. Die Rhythmik ist ruhig und reflektiert, wodurch das Gedicht einen kontemplativen Ton erhält.


Sprachliche Mittel

1. Metaphern:
Die „wachsenden Ringe“ und der „uralte Turm“ sind zentrale Metaphern des Gedichts. Sie symbolisieren die stetige Entwicklung des Lebens und die Suche nach einer höheren Wahrheit.

2. Symbole:

  • Der Turm steht für das Göttliche oder das Unerreichbare, das den Menschen anzieht.
  • Der Falke, der Sturm und der große Gesang symbolisieren unterschiedliche Möglichkeiten der menschlichen Existenz: klare Zielgerichtetheit, unkontrollierte Energie und harmonische Schöpfung.

3. Personifikation:
Die Ringe und der Turm scheinen eine eigene Dynamik zu besitzen, was die aktive Rolle der Lebensprozesse und des Göttlichen betont.

4. Fragen:
Die abschließende Frage „bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang?“ bleibt unbeantwortet. Dadurch fordert Rilke den Leser auf, über die eigene Identität und Bestimmung nachzudenken.


Interpretation

Rilkes Gedicht ist ein meditativer Text über die Dynamik des Lebens und die Suche nach Sinn. Es vermittelt die Idee, dass das Leben ein Prozess des Wachsens ist, der nicht auf Vollendung, sondern auf die Bewegung und den Versuch an sich abzielt. Die Metapher des „Kreisens“ um einen Turm deutet auf die Annäherung an etwas Höheres oder Göttliches hin, ohne dass dies je vollständig erreicht werden kann.

Das Gedicht spiegelt Rilkes Grundhaltung gegenüber der Existenz wider: Das Streben ist wichtiger als das Erreichen, und die Identität des Menschen bleibt ein offenes Geheimnis. Die Bilder des Falken, Sturms und Gesangs verdeutlichen, dass die menschliche Existenz viele Facetten hat und nicht auf eine einzige Definition reduziert werden kann.


Schluss

„Ich lebe mein Leben“ von Rainer Maria Rilke ist ein zeitloses Gedicht, das die Offenheit und Vielschichtigkeit des Lebens thematisiert. Mit seiner symbolischen Sprache und der meditativen Haltung lädt es den Leser ein, über die eigene Existenz und die unendlichen Möglichkeiten des Werdens nachzudenken. Es bleibt ein eindrucksvolles Beispiel für Rilkes Fähigkeit, tiefgründige philosophische Gedanken in poetische Bilder zu fassen.

Gedichtform: 
Thema / Schlagwort: 

Video:

»Ich lebe mein Leben (Remastered 2011)« von Mario Adorf & Montserrat Caballé

Rezitation:

Rezitation: Lotte Lehmann liest "Ich lebe mein Leben" / 1961
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