Dem Glück ein Stück näher

Bild von Antonia Löschner
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Seit geraumer Zeit schon habe ich das Gefühl, mich würde auf Schritt und Tritt das Pech verfolgen. Erst heute ist wieder solch ein Tag gewesen, an dem ich bereits vor dem Aufstehen geahnt hatte: Das kann nichts werden. Und so war es dann auch.
Ich kam schwer aus dem Bett, fühlte mich müde und sogleich vom Tag gestresst.
Kurz nach Arbeitsbeginn rutschte mir das Set Blumentöpfe, welches ich ins Regal räumen wollte, aus den Händen, direkt vor die Füße der Kunden, und alle Behältnisse gingen zu Bruch, bis auf zwei, deren Inhalt jedoch zu zerfleddert war, als dass man sie noch verkaufen konnte. In diesem Stil ging der Tag weiter. Ich traf auf schlecht gelaunte Kunden und Kollegen, die entsprechend meckerten und stressten.
Nach Feierabend dann fuhr mir der Bus vor der Nase davon, obwohl der Busfahrer mich noch hatte herbeihetzen sehen. Als ob das nicht schon genug gewesen wäre, fing es obendrein an, wie aus Eimern zu schütten. So wartete ich patschnass zwanzig Minuten auf den nächsten Bus.
Kaum zu Hause angekommen, stieß ich auf meinen äußerst gut gelaunten Ehemann, der es nicht erwarten konnte, mir von seinem sensationellen Tag mit seinen lustigen Kollegen zu erzählen. Wahrscheinlich brauche ich nicht zu erwähnen, dass ich auf derartige Gespräche heute nicht die geringste Lust hatte. Besser, man geht mir an solchen Tagen gänzlich aus dem Weg, sonst schaffe ich es noch, allen die Laune zu verderben.
Als ich schließlich die Post durchsuchte, ob etwas Interessantes für mich dabei wäre, fischte ich nur eine astronomisch hohe Wasserrechnung aus dem Stapel. Das gab mir für heute den Rest.
Ich ging zu Bett und zog mir die Decke über den Kopf – und hier liege ich nun, mich selbst bemitleidend.
Plötzlich klingelt das Telefon. Unwillig hebe ich ab. Die Anruferin ist eine alte Schulfreundin. Sie teilt mir mit, dass sie seit kurzem in meiner Nähe wohnt und mich gerne mal wieder treffen würde. Nach einigem Hin und Her einigen wir uns schließlich auf einen Kaffeeklatsch für kommende Woche.
Anschließend bringen wir uns gegenseitig noch auf den neuesten Stand über unsere bisherigen Lebenswege und stellen mal wieder fest, wie sich die Dinge doch oft sehr anders ergeben, als man sie geplant hatte. Irgendwie kommen wir in diesem Zusammenhang auch auf unsere alten Hobbys zu sprechen.
Unvermittelt erzählt sie mir, sie hätte damals immer meine Malkünste derart bewundert, jedoch wäre sie zu neidisch gewesen, um mir dies zu sagen. Lachend fügt sie noch hinzu, aber das sei ja jetzt lange her und würde eh keine Rolle mehr spielen.
Ich falle aus allen Wolken. Schlagartig erinnere ich mich wieder: wie sie sich immer lustig darüber machte, dass ich mich so lächerlich ernst nähme mit meiner Kunst, als ob meine Bilder etwas Besonderes wären. Obwohl es schon so lange her ist, verpasst mir die Erinnerung einen heftigen Stich.
Relativ schnell danach beende ich das Telefonat. Noch immer mit meinen Gedanken in der Vergangenheit, schlafe ich schließlich ein.
Am nächsten Morgen werde ich wie immer um sechs Uhr von meinem Wecker aus dem Schlaf gerissen. Zögerlich öffne ich die Augen. Irgendetwas ist heute anders als sonst: Ja, ich fühle mich erstaunlich ausgeschlafen. Verdattert mache ich mich an die morgendlichen Vorbereitungen, meine neue Energie bleibt.
Als ich in die Arbeit komme, begrüßt mich ein Kollege, der längere Zeit wegen Krankheit gefehlt hatte, mit den Worten: „Schön, dich zu sehen!“
Auch meine anderen Kolleginnen und Kollegen sind überraschend freundlich. Es scheint, als sei im Allgemeinen eine übergreifende Fröhlichkeit ausgebrochen. Was ist hier nur los?
Doch diese „Epidemie“ macht auch vor mir nicht halt. Eine Kollegin hat morgens, während der Vorbereitung, immer ein kleines Radio laufen, und heute ertappe ich mich plötzlich dabei, wie ich gut gestimmt mitsumme und meinen Körper dabei im Takt wiege, etwas, das ich seit Urzeiten nicht mehr getan habe.
Aber wirklich fassungslos bin ich, als ich später die Bestellungen in einem von mir nicht verschuldeten Chaos vorfinde und mich trotzdem nicht darüber ärgere. Stattdessen stelle ich die Ordnung einfach geschwind wieder her. Ich habe sogar so viel Energie, dass ich mich bereits jetzt auf den Moment freue, wenn mein Schatz abends aus dem Büro heimkommen und mir von seinem Tag berichten wird.
Als ich dann schließlich nach vollendeter Arbeit nachmittags zu Hause eintreffe, finde ich im Briefkasten eine Grußkarte von meiner Schwester. Einfach so – zur Aufheiterung. Das Foto zeigt einen Bären, der vollkommen entspannt und glücklich im Gras liegt und mit einer Blume zwischen seinen Zehen spielt. Ich freue mich unglaublich darüber, was ich ihr sofort per Telefonanruf mitteilen muss.
Anschließend mache ich es mir draußen in meinem Liegestuhl unter der orangefarbenen Markise gemütlich, genieße die Wärme der Sonne und denke über diesen außergewöhnlichen Tag nach. Was war hier passiert? Was ist das Geheimnis dieses Glückstages?
Die Sonne ist es wohl kaum, die hat auch in den letzten Wochen geschienen, ohne dass sie das Geringste an meiner Stimmung hatte ändern können. Auch die ungewöhnliche Fröhlichkeit der Kollegen konnte nicht der Grund sein. Sie hat mich zwar heute mitgerissen, doch wäre einer dieser „Schlechte-Laune-Tage“ gewesen, hätten sie mich mit ihrer Heiterkeit nur genervt. Und sogar die Grußkarte meiner Schwester, so liebevoll sie ist, hätte mich an einem anderen Tag nur noch trauriger gestimmt, da ich mir solch eine Begabung des Bären zur Tiefenentspannung nur erträumen kann. Was aber ist es dann.
Während ich in der Sonne liege und nachgrüble, werde ich schläfrig. Ich bin bereits am Eindösen, als es mich unvermittelt wie ein Schlag trifft. Plötzlich bin ich hellwach: Ich erinnere mich nun in vollkommener Schärfe an meinen Traum von vorheriger Nacht und dieses Gefühl, das ich darin gehabt hatte.
In diesem bin ich wieder in der Vergangenheit gewesen, zusammen mit der alten Schulfreundin. Wir waren wieder vierzehn Jahre alt und jeder mit seiner Malerei beschäftigt. Als sie sich jedoch diesmal über meine „lächerliche Ernsthaftigkeit“ dabei lustig machte, fühlte ich mich keineswegs beschämt, sondern, im Gegenteil, stolz. Ruhig schaute ich sie an und antwortete, während mich immer mehr ein ungewohntes Glücksgefühl erfasste: „Ich kenne jetzt die Wahrheit, du kannst mir meine Leidenschaft fürs Malen nicht mehr kaputt machen.“ Dann wachte ich auf.
Wie immer hatte ich meinen Traum danach sofort wieder vergessen, doch jetzt wird es mir schlagartig bewusst: Dies ist das Geheimnis! Die Wiederentdeckung meiner ehemals großen Leidenschaft und das damit verbundene Glücksgefühl im Traum hatten mich unbewusst durch den Tag begleitet und meine Wahrnehmung der Ereignisse in wundersamer Art beeinflusst.
In der Erinnerung an das Malen fühle ich mich plötzlich wieder ganz nah bei mir selbst: Ja, ich hatte es immer geliebt zu malen. Doch aufgrund fehlender Förderung und entmutigt durch herabsetzende Bemerkungen traute ich mich nie, es zu professionalisieren. Und mit der Zeit war es sogar als Freizeitbeschäftigung verschüttgegangen, in den Herausforderungen des alltäglichen Lebens.
Aber nun habe ich seine Magie wiederentdeckt und ich verstehe jetzt: Das Malen verleiht meinem Leben einen tieferen Sinn – unabhängig von der überlebensnotwendigen Alltagsroutine. Ich bin fassungslos vor Freude. Warme Wellen des Glücks überrollen mich. Gleich morgen nach der Arbeit werde ich die Malutensilien einkaufen. Kaum kann ich es nun erwarten.
Bevor ich am heutigen Abend zu Bett gehe, krame ich noch kurz das leere Notizbüchlein hervor, welches ich mir vor Jahren wegen der fröhlichen Hülle gekauft hatte und das seitdem in der Kommodenschublade auf seine Verwendung wartet. Erfüllt von dem Tag, schlage ich die erste Seite auf und beginne die neuen Erkenntnisse über das Glück aufzuschreiben: meine Gedanken und Gefühle über das Malen als meine große Leidenschaft.
Anschließend lege ich das Büchlein zusammengeklappt, doch sichtbar auf meinen Nachttisch: als Erinnerung an den Tag, an dem ich dem Glück ein ganzes Stück näher kam.

Veröffentlicht / Quelle: 
In: Alltagsperlen: Kurzgeschichten und Gedichte, 2017
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