Im Spätnachmittagslicht der Sonne sah die Gegend am schönsten aus. Auf den Feldern stand die Gerste fast einen Meter hoch. Eine Brise zog über sie hinweg und wiegte die Ähren in goldbraunen Meereswellen bis hin zu den angrenzenden Waldstücken am Horizont. Darüber lag der weite Himmel. Groß und blau, fast wolkenlos.
Auf der Landstraße sah Nina aus dem Seitenfenster des Wagens. Selbst durch die geschlossene Scheibe roch die Luft nach schwerer Erde und würziger Reife. Im Radio berichtete der Moderator über einen Antikmarkt, der am folgenden Wochenende in einem der umliegenden Dörfer stattfinden sollte. Nina lehnte sich in ihren Sitz zurück und schloss die Augen. Es war einer der wenigen Augenblicke, in denen sie sich nicht darüber ärgerte, dass Jo so wenig sprach. Die Landschaft verlangte nach Schweigen. Sie blickte zu Jo hinüber, als er den Wagen sanft abbremste. Ein Traktor vor ihnen verlangsamte den Verkehr, dass sich dahinter eine kleine Wagenkolonne bildete.
„Hörst du das?“ fragte Nina.
„Was?“
„Niemand hupt.“
„Wozu auch? Der Traktor wird ohnehin In einen der nächsten Feldwege abbiegen.“ Jo klappte die Sonnenblende herunter.
„Die Gegend ist herrlich“, sagte Nina.
„Das ist sie.“
„In unserer Gegend gibt es so etwas nicht. Nur Straßen und Wohnungssilos“, sagte Nina.
Jo wusste, dass Nina damit auf Berlin-Marzahn anspielte. Doch so schlimm war es dort auch nicht. In Berlin gab es viele schöne Ecken. Städte hatten ihre Vorteile.
Die Straße folgte einer Linkskurve. Fast unmittelbar hinter der Biegung tauchten am Straßenrand Hinweisschilder auf. Darup, drei Kilometer; Rorup, fünf Kilometer. Die Namen schwangen in Jos Brust vertraut. Er kannte die Orte, so wie alle anderen im Umkreis. Nichts hatte sich verändert. Alles verblieb in beunruhigender Beständigkeit. Aber die Gegend war herrlich, so wie Nina es ausdrückte. Nun konnte Jo es eingestehen. Früher hatte er es nicht so empfunden; aber das war in einer Zeit, als sein Herz ins Unbekannte drängte. Vielleicht ist die Schönheit der Landschaft vom Alter abhängig.
„Ich kann mir vorstellen, dass man einander hier noch kennt“, sagte Nina.
„Darauf kannst du dich verlassen“, sagte Jo.
Nina lachte über diesen Gedanken. Aus irgendeinem Grunde schien ihr das erstrebenswert. Vielleicht hatte sie genug von der Anonymität der Großstadt. Als Kind streunte Jo durch die Gegend, in wohliger Sicherheit der Umgebung. Die Alteingesessenen kannten ihn, oder seine Eltern und Großeltern. Und der Kirchturm seines Heimatdorfes wies ihm den Weg nach Hause. Es hatte eine Weile gedauert, bis ihm die Gegend zu eng geworden war.
„Kannst du eine CD einlegen?“ fragte Nina.
„Welche?“ fragte Jo.
„Was zu der Atmosphäre passt.“
„Was sollte deiner Meinung nach zu dieser Gegend passen?“
„Ich weiß nicht.“
„Von den Ochtruper Volksmusikanten haben wir keine CD“, sagte Jo.
„Du bist albern“, sagte Nina.
Jo wusste es selbst. Seine Äußerung war ungerecht. Er wählte Ed Sheeran aus und Nina war zufrieden. Wieder stoppte der Verkehr. Der Traktor bog in einen der schmalen Feldwege ein. Am Ende des Weges stand Lüders Scheune, wie Jo wusste. Dort traf sich die Dorfjugend wahrscheinlich immer noch. Die Scheune war nichts Besonderes, aber es gab genug Platz und war weit genug von Leuten weg, um Musik zu hören und Bier zu trinken. Jeder wusste das. Ein Zufluchtsort für Jugendliche, auch wenn er nicht so abgeschieden war, dass irgendetwas verborgen blieb. Aber man ging dorthin. Wahrscheinlich sogar Jos Vater zu seiner Zeit. Vielleicht hatte er dort die Mutter kennengelernt. In traditionellem Ungehorsam.
„Dass du mich deinen Eltern vorstellen willst, hat mich überrascht“, sagte Nina.
„Das ist hier so Sitte“, sagte Jo.
Nina besaß eine konkrete Vorstellung vom Landleben und Jo war sicher, dass Brauchtum dazugehörte. Sie träumte in romantischen Vorstellungen, doch Jo erinnerte sich an die Wirklichkeit.
„Lass dich nicht irritieren“, sagte er.
„Warum sagst du das?“ fragte Nina.
„Ich meine nur“, sagte Jo.
„Vielleicht sollte ich Blumen für deine Mutter mitbringen“, sagte Nina und kramte in ihrer Handtasche, als suche sie bereits nach Geld.
„Darauf legt sie keinen Wert“, sagte Jo.
„Jede Frau mag Blumen“, sagte Nina.
Vielleicht hatte Nina Recht. Soweit kannte Jo seine Mutter nicht. Hinter seinem Elternhaus lag ein Garten, in dem das ganze Jahr über Blumen wuchsen. Seine Mutter kümmerte sich darum. Trotzdem hatte er ihr bei einer Gelegenheit zum Geburtstag einen Blumenstrauß mitgebracht.
„Warum kaufst du Blumen, wenn der Garten voll davon ist?“ hatte ihn seine Mutter gefragt, woraufhin er es in den folgenden Jahren unterließ. Seine Mutter mochte wohl keine Blumen, die beschnitten wurden. Alles sollte natürlich wachsen. Auf Einfachheit wurde immer großen Wert gelegt. Auch von seinem Vater. Man lebte natürlich und starb natürlich. Schlicht und gerade, wie es in der Natur vorgesehen war.
„Es würde Spaß machen, hier ein Event zu organisieren“, sagte Nina.
Jo nickte. Aus Ninas Sicht sicherlich, es war ihr Beruf. Überall machte es Spaß, ein Event zu organisieren. Doch was wusste sie schon von Schützenvereinen und Heimatvereinen? Hannes, sein Vater, hätte ihr eine Menge darüber erzählen können, falls er jemals geredet hätte. Aber das war unwahrscheinlich. Ebenso unwahrscheinlich, wie er sich über den Besuch seines Sohnes freuen würde.
Ein Webdesigner war nicht die Vorstellung des Vaters von einem erfolgreichen Sohn. Nachfolger der Traktorreparaturwerkstatt wäre sein Stolz gewesen. Als Erbe von Johannes, der von allen nur Hannes gerufen wurde. Doch Johannes, sein Sohn, nannte sich nun Jo. Auch das würde dem Vater sicher nicht gefallen.
In der Ferne wuchs ein Kirchturm aus dem Boden. Lang und schmal, wie eine steinerne Ähre. Ed Sheeran sang „Way home“. Nina beugte sich vor und kniff die Augen zusammen.
„Sind wir schon da?“
„Dauert nicht mehr lange“, sagte Jo.
Tatsächlich würden sie noch eine halbe Stunde fahren. Zeit war nie Jos Problem gewesen. In dieser Gegend schon gar nicht. Die Felder zogen sich unendlich dahin.
Als sie ins Dorf kamen und Jo in ihre alte Straße einbog, kam ihm alles unmittelbar vor. Fast so, als würde er von einer seiner Erkundungen zum Essen zurückkehren. Oder von einem Treffen mit Mattes, der ihn überhaupt erst auf die Idee mit dem Designstudium gebracht hatte. Aber das war natürlich klar. Mattes war der Junge von Zugezogenen. Sie hatten nichts mit Traktoren zu tun. Solche seltsamen Einflüsse kamen nicht aus der Gegend.
„Was ist das wieder für eine Idee?“ fragte der Vater.
„Das ist meine Zukunft“, hatte Jo entgegnet.
„Das ist Unsinn. Ich will, dass aus dir etwas wird“, sagte der Vater.
Für seinen Jungen wollte er nur das Beste. Wie die Fortführung der Reparaturwerkstatt. Was machte sonst wirklich Sinn? Die Mutter mischte sich nicht ein. Alles regelte sich in seinem natürlichen Wuchs. Schon bevor Jo nach Berlin ging, hatten sein Vater und er zwei Monate nicht miteinander gesprochen. Kommunikation war nun einmal eine schwierige Sache. Gewöhnlich endete sie in Monologen oder im Schweigen. Wenn Jo es sich aussuchen durfte, gefiel ihm Schweigen besser. In Monologen war sein Vater viel zu talentiert. Sie drückten auf die Seele des Sohnes. Zehn Jahre ohne Kontakt mit seinen Eltern hätten ihn davon kurieren sollen. Aber das war wohl ein Irrtum gewesen.
Aus dem Jungen war etwas geworden, wenn auch sicherlich nicht in den Augen des Vaters. Sie waren einander zu unähnlich, nur die Sturheit lag beiden im Blut. Die Landschaft hatte Jo hinter sich gelassen, aber nicht die Werte. Man stellte den Eltern die Frau vor, die man heiraten wollte. Nicht, dass es etwas änderte. Die Meinungen blieben und auch das dumpfe Gefühl, wenn man nach Hause fuhr.
„Muss ich mir Sorgen machen?“ fragte Nina.
„Worüber?“ fragte Jo.
„Was du mir von deinen Eltern erzählt hast, trägt nicht zu meiner Beruhigung bei“, sagte sie.
„Sie werden nett zu dir sein“, sagte er.
Bei seiner Mutter war er sicher. Sie war so sanft wie die Landschaft und das war ja schon immerhin etwas. Alles andere musste sich zeigen.
Das Haus besaß einen Vorhof und eine Einfahrt. „Kniepschild Traktor“ stand auf einem Schild davor. In verblassendem Grün. Das Schild hatte noch der Großvater angebracht. Es war nicht mehr erneuert worden. Auf dem Hof stand ein Traktor zur Reparatur. Früher waren es mindestens vier gewesen. Alles änderte sich eben, außer Hannes Kniepschild.
„Wie hübsch“, sagte Nina.
Jo fuhr seinen Wagen auf den Hof. Der Kies knirschte unter den Reifen. Nina prüfte ihr Make-up im Spiegel, klappte ihn dann hoch.
„Du musst nicht nervös sein. Wir können jederzeit wieder fahren“, sagte Jo.
„Ich will aber gerne deine Eltern kennenlernen. Es wird sicher reizend“, sagte Nina und Jo bemerkte, dass sie sich augenscheinlich in die Atmosphäre einstimmte. Dazu gehörte auch die Sprache. Lange hatte er schon niemand mehr „reizend“ sagen hören. Das war ein Wort für alte Damen. Eine Beschreibung aus wohliger Distanz. Reizende Landschaft, reizende Eltern, reizender Besuch. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, aus Berlin herzukommen.
Als Jo den Wagen parkte, öffnete sich die Haustür. Eine Frau trat heraus. Seine Mutter. Sie war älter geworden, natürlich. Ein wenig rundlicher, mit grauen Strähnen im zurückgestecktem Haar und so winzig wie die Garben im Frühsommer. Sie sah zu dem Wagen hinüber. Unmittelbar hinter ihr erschien in der Tür der massige Körper eines Mannes. Wittrig, kahl. Nun mit Brille. Die hatte er früher nicht nötig gehabt. Jos Vater musste nicht unbedingt alles genau sehen. Die Umrisse genügten ihm um sich eine Meinung zu bilden.
Nina stieg aus dem Wagen, dann Jo. Gertraud, die Mutter, sah die junge Frau, schließlich den Mann an ihrer Seite. Sie zuckte zusammen, aber sie schlug nicht die Hände vor das Gesicht, so wie es in diesem Fall wohl üblich war. Nur unmerklich hob sie ihre rechte Hand.
„Johannes!“ rief sie.
Ihre Stimme klang weich. Sie hatte nicht die Härte des Vaters angenommen. Der milde Südwind hielt sie geschmeidig. Nina sah zu Jo hinüber und wartete darauf, dass er etwas entgegnete. Der Mann hinter der Mutter hatte seinen Sohn wohl auch erkannt. Er bemerkte auch die junge Frau. In ihrer Jeans und der Bluse, die sie darüber trug. Vielleicht störten ihn die roten Strähnen im Haar, vielleicht missbilligte er nur die Unterbrechung des Tages. Er wandte sich ab und ging ins Haus zurück.
Doch die Mutter trat einen Schritt aus der Tür und Jo kam ihr entgegen. Sie hob die Arme, um ihn zu umarmen. Jo beugte sich zu ihr hinunter und Nina stand wartend dabei.
„Wir haben dir keine Blumen mitgebracht“, sagte Jo, als er sich wieder von ihr löste.
„Ich habe genug im Garten“, sagte die Mutter und sah zu der jungen Frau hinüber.
„Das ist Nina“, sagte Jo.
Die Mutter lächelte und zwischen den Frauen war alles geregelt.
„Kommt ins Haus“, sagte sie.
Sie traten ein. Die Tür schloss sich hinter der Landschaft.
Hinter der Landschaft
von Magnus Gosdek
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