Adelig - Page 2

Bild von Karl Hausruck
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nachgekommen werden. Alle taten ihre Pflicht, nein, es war ihnen ein Bedürfnis, den Anforderungen der adeligen Tugenden Genüge zu tun. Ich lebte damals in einem Zustand permanenten schlechten Gewissens. Ich hätte mich umbringen mögen, aber ich erreichte nicht die tiefe Hingabe meiner Mitbewohner. Immer zog mich das Schreckliche, das ich sah, wie ein Magnet an, das die Hingegebenen einfach nicht erblickten, für das unsere Gemeinschaft nicht einmal Begriffe zu haben schien, um es artikulieren zu können. Für mich war ich damals einfach nicht normal, und ich glaubte auch schon zu erkennen, daß die anderen mich verachteten, daß ich für sie nicht von ihrer Qualität war, daß ich für sie ein degenerierter Schwächling war. Jedem war offensichtlich, daß meine Leistungen nicht von der ganz großen Klasse waren. Zwar plagte ich mich ab mit den Pflichten der Auserwähltheit, aber es gibt nichts Grauenerregenderes, als wenn das Herz nicht dabei ist. Eine Leistung, die nicht von der großen Klasse meiner Mitbewohner war, war ein Versagen, und meine Leistungen waren nur Versagen, ich sah es selbst. Aber ich fand absolut keinen Weg, die großen Leistungen meiner Mitbewohner zu erreichen ohne ihre Besessenheit. Dabei muß ich heute sagen, daß ich mir nicht erklären kann, wie ich damals vollbrachte, was ich vollbracht, mit all dem schrecklichen Widerwillen im Bauch. Sinnlose Hochleistungen.

Eines Tages sagte ich plötzlich vor allen, daß nichts dahinter sei, daß dahinter absolut nichts sei. Ich war nicht bei Sinnen. Noch als das letzte Wort meinen Mund verließ, packte mich ein fürchterliches Entsetzen. Wie konnte das geschehen? Nie hatte ich so etwas beabsichtigt. Immer war ich bedacht gewesen, daß mein Wahn, den ich als solchen erkannte, nicht offenbar würde. Aber schon damals hätte mich aufmerksam machen müssen, daß die Reaktion meiner Mitbewohner auf das Gesagte nicht Entsetzen vor der Geisteskrankheit, sondern rückhaltlose, ungeahnte, maßlose Aggressivität war. Ich hätte mit einem Schlag erkennen können, daß mein Wahn die Wirklichkeit war, die in mein Bewußtsein gedrungen ist, während die Aggressivität der anderen dieselbe Wirklichkeit war, aber aus deren Bewußtsein verdrängt. Ich hätte einfach nicht mehr weiter zu gehen brauchen, es war klar, was mein Bewußtsein sah, sah ihr Unterbewußtsein. Das Unterbewußtsein meiner Mitbewohner verwehrte dem Bewußtsein die Wirklichkeit, denn es wußte genau, daß es dann mit allen käme wie mit mir. Keiner kann Begeisterung für das Genügetun von Ansprüchen entwickeln, deren Fundamente das Bewußtsein bezweifelt und hohen Ansprüchen, für die keine Begeisterung besteht, vermag keiner nachzukommen, damit aber ist die ganze Existenz der Auserwählten aufs Spiel gesetzt, ja ihre Identität geleugnet und vernichtet. Eher aber vollbringt das Unterbewußtsein des Auserwählten die schrecklichsten Untaten, ja die Zerstörung der entsprechenden Person selbst, anstatt daß es Identität abgibt.

Ich erinnere mich an ein Gefühl der Liebe zu meinen Mitbewohnern. Nach meinem besagten Ausspruch realisierte ich damals noch nicht den Inhalt ihrer Aggressivität, aber die Tatsache der Aggressivität, wo ich Entsetzen und Spott befürchtet hatte, verunsicherte mich allem Anschein nach doch in dem Bild, das ich damals von mir hatte. Es ist, als sah meine Existenz plötzlich hinter all der Wirrnis doch die Möglichkeit, zu sich selbst zu gelangen. Anders ist es nicht zu erklären, daß ich auf die Aggressivität der Mitbewohner hin nicht, wie aus meinem öffentlichen Portrait der damaligen Zeit zu erwarten, mit Unterwerfung, zumindest mit Beschwichtigung reagierte, sondern zu meiner eigenen und sicher aller Überraschung mit Flucht nach vorne. Ich wollte es jetzt genau wissen. Was ist daran auszusetzen? Wenn das, was ich sah, Wirklichkeit war, dann würde in jedem Fall der Drang zu obsiegen haben, diese Wirklichkeit meinen Angehörigen zu zeigen. Ist es denn möglich, daß Liebende nicht daran interessiert sind, daß sie einander alles, was einer von ihnen als Wahrheit erkennt, mitteilen? Und wenn das, was ich sah, nicht Wirklichkeit wäre, was läge näher, als daß ich meinen Wahn den Herzen und Argumenten meiner geliebten Mitbewohner nun endgültig zur Heilung desselben auslieferte, da es nun schon einmal zu seiner Offenbarung gekommen ist.

Ich schrie und sagte, das Nichts dahinter werde immer größer, sieht denn keiner, daß wir nur noch in den vordersten Gemächern dieses alten, einst übermächtigen Gebäudes säßen, daß wir nur noch auf den Balkon und in die Eingangshalle träten, daß bald überhaupt nur noch die Fassade existieren würde und daß wir bald von dem ungeheueren Nichts dahinter papierplatt an ihre Rückseite gedrückt würden. Hätte ich es nicht wissen müssen? Wie ein Selbstmörder hatte ich den ersten Ausbruch ihrer Aggression nicht realisiert. Jetzt geschah eine wahrhafte Explosion, sie brüllten, es war jetzt ganz in ihnen, das Böse, das sie in mir sahen, zu vernichten, mich auszulöschen. Ich wagte das letzte. Ich eilte auf den Balkon und kündigte den Beweis meiner Worte an. Weiß, zitternd, gelähmt von Angst und Haß standen sie in der Balkontür. Ich hatte vor kurzem im Eisengeländer des Balkons einen Riß bemerkt! Wer weiß, von welchem Haus ich spreche, von welchen Bewohnern, der versteht, mit welcher Wucht mich diese Entdeckung traf. Es war also nicht mehr nur so, daß ich mit klaren Augen sah, was dahinter war, nein, jetzt sah ich, daß die schrecklichsten Wirklichkeiten auch schon in aller Öffentlichkeit zu Tage lagen. Es war schlimm, mich erfaßte die Angst vor fortschreitendem Irrsinn. Ich beobachtete alle Hausbewohner, aber keiner schien das Ungeheuerliche zu sehen, auch wenn er direkt davorstand. Er blickte vorbei, als wäre da nichts Bemerkenswertes. Heute weiß ich, daß er wirklich nichts sah, daß er sich eher hätte töten müssen, als es zu sehen. Stell dir vor, einer Frau stirbt das einzige Kind und sie bemerkt es nicht und zieht es weiterhin in der früh an und kleidet es abends aus und alle, die mit der Frau verkehren, sehen die Wirklichkeit nicht und eines Tages sagt einer, das Kind ist ja tot.

Ich schrie: seht her, der Riß im Geländer! Seht doch, könnt ihr es leugnen? Da übersprang ihr Haß alle Grenzen so wie sich die Kräfte in Todesgefahr vervielfachen. Es gab für mich keine Rettung mehr. Ich hatte sie geliebt, ich wollte ihnen die Wahrheit zeigen und hatte dabei aufs Spiel gesetzt, ein Narr zu sein. Sie aber wollten mich töten. Jetzt

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