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du nicht die Bäume?“
„Die Bäume reden nicht mit jedem. Kannst du mir nicht helfen?“
„Frag’ die Bäume. Du bist ihr Freund. Dir werden sie es sagen.“
Ich bin sehr müde in dieser Nacht. Ich denke darüber nach, was Thora gesagt hat.
Still und schweigend stehen die Bäume da. Ja, ich möchte gern ihr Freund sein, ich möchte ihnen helfen. Aber wie? Unter einer dicken Wurzel schlafe ich schließlich ein.
Doch am nächsten Morgen weckt mich eine eisige Kälte. Und wie ich die Augen aufmache, du, da mach’ ich sie gleich wieder zu! Ich denke, ich bin blind! Aber es ist nicht alles schwarz, – nein, es ist alles weiß, ganz weiß! Nur die Bäume, sie stehen wie schwarze Striche da. Und vom Himmel fallen lauter weiße Federn, ganz langsam und ganz leise. Da fällt mir ein, was der Mond gesagt hat: „Bald ist alles weiß – der große Schlaf.“ Aber ich bin wach. Und ich friere und habe Hunger! Bin ich ganz allein? Schlafen sie alle? Felix und Pix und Thora und die Bäume?
Da knackt es hinter mir! Erschreckt springe ich auf und falle mitten in die weißen Federn. Auf meiner Nase werden sie zu Wasser, lauter kleine Tropfen, die kitzeln. Was ist das für eine Welt? Ich begreife nichts mehr.
Da knackt es wieder!
Ich sause unter meine Baumwurzel, erstarre und warte ab, was weiter passiert. Und dann steht da ein langes, braunes Bein vor meiner Wurzelhöhle. Und gleich darauf noch eines! Ich schau vorsichtig nach oben, da guckt Piet auf mich herunter! Piet ist ein junger Rehbock. Und im Sommer habe ich ihn gar nicht gemocht. Wenn er mit seinen langen, dünnen Beinen auf der Wiese am Wald herum sprang, war er mir unheimlich, und in seiner Nähe schien es gefährlich zu sein. Aber jetzt möchte ich ihm am liebsten um den Hals fallen. Ein lebendes Wesen in dieser erstarrten, weißen Welt.
„Hallo, Piet“, freue ich mich, „wo kommst du her?“
„He, Oliver, du siehst ja so verschreckt aus. Was hast du denn?“
„Du, Piet, sag’ mal, was ist das? Die weißen Federn fallen vom Himmel, alles ist weiß und kalt!
Sind – sind wir ganz allein auf der Welt?“
„Keine Ahnung“, meint Piet, „ich finde es lustig. Komm, wir laufen! Dann wird dir auch warm...“
Ja, und dann laufen wir durch die Federn, ich immer hinter Piet her. Und manchmal bin ich bis zu den Ohren drin, und Piet ist in eine Wolke aus weißem Staub gehüllt. Und wenn er stehenbleibt, dann sehe ich, daß aus seinem Maul auch weiße Luft kommt. Es ist alles sehr eigenartig und unbegreiflich, und ich bin sehr froh, daß ich Piet getroffen habe. Nachts schlafen wir zusammen, und tagsüber findet Piet immer Stellen, an denen es etwas zu fressen gibt. Langsam gewöhne ich mich an diese veränderte Welt. Tief unter den weißen Federn liegen die Blätter. Piet wühlt sie manchmal auf, wenn er auf der Suche nach Futter mit den Füßen scharrt. Aber er weiß auch nicht, warum sie nicht mehr an den Bäumen sind.
Und eines Morgens ist das Weiße wieder weg! Als ob ein Zauberer die Landschaft mit seinem Stab berührt hat. Wie zu Anfang auf meiner Nase, so sind die weißen Federn jetzt überall zu Wasser geworden. Doch sonst hat sich nichts verändert. Die Blätter auf dem Boden sind braun und schwarz und naß. An den kahlen Zweigen der Bäume hängen viele silbrig glitzernde Wassertropfen, und wenn Piet beim Laufen dagegen stößt, dann regnen sie herab. Und doch – ja, etwas ist anders geworden. Es wird wärmer – und der Wind weht und es kribbelt und alles ist irgendwie aufgeregt, voller Erwartung. Piet ist auch weg. In großen Sprüngen ist er über die Wiese gestürmt und verschwunden.
Nun bin ich wieder allein. Aber ich habe keine Angst mehr – ich freue mich... nur, ich weiß nicht worauf. Dann schaue ich wieder die Bäume an und werde traurig. Ich möchte ihnen so gern helfen. Aber wie? Kann es sein, daß der große Zauberer vergessen hat, sie mit seinem Stab zu berühren, ihnen neue Blätter zu schenken? Das wäre schrecklich. Was hatte Thora, die Eule, doch gesagt?
„Frag’ die Bäume, Oliver.“
Gut, Thora, denke ich, ich werde sie fragen. Und wenn ich ihnen helfen kann, dann werden sie es mir sagen. Voller Hoffnung blicke ich von einem zum anderen. Es sind so viele, welchen soll ich fragen – wie spricht man mit einem Baum? Wie antwortet er? Und so laufe ich durch den Wald und schau sie an, die Bäume. Ich möchte mich so gerne freuen, aber – ich kann es nicht, wenn die Bäume traurig sind.
Als die Dunkelheit anbricht, bleibe ich erschöpft sitzen. Ich bin müde, vom vielen Laufen und auch von der ungewohnt warmen Luft. Ein milder Abendwind streicht durch die Äste und Zweige. Er rauscht nicht wie früher, als noch Blätter an den Zweigen waren, er summt.
Und da ist es, als ob ich meinen Namen höre.
„Oliver – wach auf, Oliver...“
Und wie ich nach oben schaue, da scheint es, als ob die Bäume sich zu mir herunter beugen.
„Oliver, kleiner Hase, sei nicht traurig. Nichts vergeht; es ist wie Tag und Nacht. Nur, unsere Tage und Nächte sind länger, viel länger als deine. Wir haben einen langen Tag mit unseren Blättern geatmet. Dann ist die Nacht gekommen. Wir haben geschlafen, die Blätter waren alt und verbraucht. Aber zu unseren Füßen geben sie uns die Kraft für einen neuen Morgen, mit neuen Blättern für einen langen Tag. Du bist jung, Oliver, du wirst sehen – verstehen. Es ist wie Kommen und Gehen in der unendlichen Zeit – schau, Oliver, schau...“
Und dann ist da wieder dieses Summen. Am nächsten Morgen wache ich auf und bin ganz sicher, daß ich geträumt habe. Wie am Abend zuvor stehen die Bäume da. Ein neuer Morgen, denke ich, ein neuer Morgen?
Und da seh’ ich es! Vor meiner Nase, ein ganz kleines neues Blatt. Und nicht nur da! Überall sind sie auf einmal. Es schwebt wie ein zarter grüner Hauch zwischen den Bäumen und Sträuchern. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Weißt du, ich bin von einem Baum zum anderen gesprungen und habe ihn angefaßt und immer nur „Guten Morgen – guten Morgen!“ gerufen.
„Oliver“, sagt Swantje, „glaubst du, daß die Bäume dich verstanden haben?“
„Ganz sicher“, nickt Oliver. „Weißt du, die Bäume reden nicht mit jedem. Aber wen sie mögen, dem hören sie auch zu.“