EIN LIED MIT 10 GESÄNGEN

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1. Gesang: ENTSTEHUNG

Ich soll was schreiben für die Literaten.
Im Neuköllner Leuchtturm brennt noch Licht.
Dann schreib ich eben ein Gedicht.
Hab meine jüdischen Wurzeln als Kind nicht verraten.

Auch den ägyptischen Vater mag ich nicht kennen.
Scham kommt auf, ich werde rot.
Ein Klassenbuch bringt mich in Not.
Denn für das Klassenbuch musste ich Mustapha nennen.

Ein Buch geht auf Reisen, ich weiß nicht wohin?
Ikh hab’ a yiddishe Mame, Ikh hab’ a Neshame,
G‘tt weiß, wer ich bin.

2. Gesang: BÜCHERBOX AM GLEIS 17

Für die Bücherbox fertigt ein Lehrling Regale.
11 / 2012 es ist draußen schon kalt.
Die Bücherbox soll in den Grunewald.
Aber noch liegt sie im Werkstattsaale.

Die kommt nach GLEIS 17, hört‘ er sagen.
Dem Lehrling, wird beim Sägen heiß.
Er fragt sich, was ist denn das für ein Gleis.
Das will er morgen den Meister fragen.

Ein Buch geht auf Reisen, ich weiß nicht wohin?
Ikh hab’ a yiddishe Mame, Ikh hab’ a Neshame,
G‘tt weiß, wer ich bin.

3. Gesang: JAMIL

Die Box ist eng, der Bücher viel.
Da sehe ich einen draußen stehen.
Wir werden später noch zum GLEIS 17 gehen.
Er kommt aus dem Libanon und heißt Jamil.

Meinem Vater, so sagt er, verdank ich das Leben.
Auch die Mutter zu ehren ist muslimische Pflicht.
„Den Juden gehört Palästina nicht!
Mit Juden kann es keine Freundschaft geben.“
Ein Buch geht auf Reisen, ich weiß nicht wohin?
Ikh hab’ a yiddishe Mame, Ikh hab’ a Neshame,
G‘tt weiß, wer ich bin.

4. Gesang: LEVI

Ich lese die Zahlen verewigt in Stahl.
Da kommt Levi, der Lubawitscher, von Chabad.
Am 16. März ist Purim und davor der Schabbat.
183 Züge ist nicht nur eine Zahl.

Ich erwähne Vater und Mutter, kann nicht koscher sein.
Ich bin eben Mampe, halte nicht die Mizwot.
„Bei Haschem zählt die Mutter“, er redet von G‘tt.
Levi spricht von Neshama, sagt, die Seele sei rein.

Ein Buch geht auf Reisen, ich weiß nicht wohin?
Ikh hab‘ a yiddishe Mame, Ikh hab’ a Neshame,
G ‘tt weiß, wer ich bin.

5. Gesang: COCO SCHUMANN, DER MUSIKER

Transport März ‘43, Auschwitz ist das Ziel.
Weil der arische Vater gebeten hat,
fährt Coco zunächst nach Theresienstadt.
Bei Ankunft Tod oder Leben, das ist schon recht viel.

‘44, während sein Waggon Richtung Birkenau rast.
Er wird schon erwartet, gleich hinter dem Tor.
Und ein Halbwelt-Kapo brüllte: „Musiker vor!“
Die SS hat das Auschwitz-Orchester vergast.

Ein Buch geht auf Reisen, ich weiß nicht wohin?
Ikh hab’ a yiddishe Mame, Ikh hab’ a Neshame,
G‘tt weiß, wer ich bin.

6. Gesang: COCO SCHUMANN, DER ÜBERLEBENDE

Mit Musik und Glück, da konnte er leben.
Und Coco hat gute Musik gemacht.
Für manch Überlebenden blieb es Nacht.
Und dann sagt er mit 90, so ist das eben.

Ich jammere nicht, ich war in Auschwitz drin.
Viele sind auch nach der Befreiung nicht weggekommen.
Die haben Auschwitz überall hin mitgenommen.
„Ich juble, dass ich da wieder rausgekommen bin.“

Ein Buch geht auf Reisen, ich weiß nicht wohin?
Ikh hab’ a yiddishe Mame, Ikh hab’ a Neshame,
G‘ tt weiß, wer ich bin.

7. Gesang: 12. JANUAR 1943

Sechs Mal in drei Jahren gab es 2-mal Transport.
Am sechsten Shevat Fünftausendsiebenhundertdrei.
1190 kamen nach Auschwitz und Erna Schlesinger war dabei.
Theresienstadt hieß für einhundert Juden der Ort.

Auch von Theresienstadt fahren Züge.
Viele wissen inzwischen genau,
Das Ziel ist Auschwitz Birkenau.
Und Palästina, nur eine Lüge.

Ein Buch geht auf Reisen, ich weiß nicht wohin?
Ikh hab‘ a yiddishe Mame, Ikh hab’ a Neshame,
G‘ tt weiß, wer ich bin.

8. Gesang: 3 VON 17 TAUSEND

Am 02.März 1943, in aller Frühe, ganz leise,
1757 und Johanna Schäffer wurden zum Gleis getrieben.
Ihre Mutter Ella ist zu Hause geblieben,
für Martin und Dorothea Ledermann war es die letzte Reise.

Haben Ledermanns noch ein Buch mitgenommen?
Sie hatten Zeit, zur Sammelstelle wird nicht gerannt!
Erst wurden die Bücher, dann die Menschen verbrannt.
Johanna, aus der Hobrechtstraße 57, ist von der Fabrik gekommen.

Ein Buch geht auf Reisen, ich weiß nicht wohin?
Ikh hab’ a yiddishe Mame, Ikh hab’ a Neshame,
G‘ tt weiss, wer ich bin.

9. Gesang: 3 VON 6 MILLIONEN

12. März 1943, der Gashahn wird zugedreht in der Jonastraße 4.
944 fahren nach Auschwitz, wenig Hoffnung, o weh‘.
Am Tor steht: „ArBeit macht frei“ auf dem Kopf steht das „B“
Margarete und Fritz Wolff, der Jurist, wohnten gestern noch hier.

Ella Schäffer fährt heute am 12. März auch.
Johanna wird sie sehen, schon bald.
Ob alle arbeiten müssen, ob jung oder alt?
Ihre Tochter, schon vergast, ist nicht mal mehr Rauch.

Ein Buch geht auf Reisen, ich weiß nicht wohin?
Ikh hab’ a yiddishe Mame, Ikh hab’ a Neshame,
G‘ tt weiss, wer ich bin.

10. Gesang: WAS DANTE NICHT SAH

Von Jozef Lànik wurde ein Buch entliehen.
„Karol“ sagt aus Auschwitz: „Was Dante nicht sah“.
Am 26.11.2012 war das Buch nicht mehr da.
„Karol“ Jozef Lànik konnte aus Auschwitz fliehen.

Ein Buch ging auf Reisen, nach Oldenburg hin.
Am 09.03.2014 ist es noch hier gewesen.
Einer hat es in Kalabrien gelesen.
Hotelbücherei CAPO VATICANO, da steht es nun drin.

Ein Buch geht auf Reisen, ich weiß nicht wohin?
Ikh hab’ a yiddishe Mame, Ikh hab’ a Neshame,
G‘ tt weiss, wer ich bin.

*Neshame – jiddish, abgeleitet von Neshama, Seele

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