Morgens – die Stadt

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Grau wie ein Esel über der Stadt: der weite Himmel.
Die Bäume sind schwarz und vertrösten dich auf morgen.
Durch hohe Gebäude reiten die frühen Amtsschimmel.
Vor der Bank im Park gurrt mir ein Täuberich seine Sorgen.

Die Sonne schläft, der blasse Mond will sich nicht von uns trennen
und in den Straßen lärmt schon seit fünf Uhr morgens Verkehr.
Ein Bauer schafft Eierkisten zum Markt, das Tageswerk seiner Hennen.
Der Bettler vorm Kaufhaus erwacht: sein Antlitz ist sorgenschwer.

Ein Bub trägt stolz seinen roten Tornister durch die Straßen;
sobald er nach Schulschluss heimgekehrt ist, bleibt er allein.
Ein Straßenkehrer versucht, mit dem Kleinen zu spaßen.
Der Junge, mit ernstem Blick, geht auf 's Geplänkel nicht ein.

Ich bin heute Stunden zu früh aus dem Bett gestiegen.
Mein Weg führt mich zum Bahnhof, ich will verreisen.
Auf dem Perron denke ich flüchtig noch an mein Bügeleisen.
Klar, ich hab 's ausgestellt, darf mich in Sicherheit wiegen.

Dann, im Abteil, lass ich mich erleichtert ins Polster fallen.
In fünf, sechs Minuten startet zur Hauptstadt der ICE.
Jetzt dürft ihr meinethalben die Türen zuknallen.
Ich bin Kosmopolitin: Abschied verschafft mir kein Weh.

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