Der Brunnen des Abschieds

Bild von Friedrich Schrader
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Dort bei Kadiköj dicht an der Straße nach Bagdad,
An dem langen, grauen, steinbelegten Pfad,
Liegt ein Bronnen,
In der Sonnen –
Süß zwar ist sein Wasser – doch die ganze Bitterkeit der Welt
Auf die Leute, die hier trinken, fällt . . .

„Quell des Abschieds – Quell der Trennung“ ist der Name sein,
Und umflort von Tränen ist der graue Stein.
In den alten Bäumen
Rauscht es wie von bangen Träumen,
Und wie einst erschallt verlorener Abschiedsgruß in diesen Herbstesstürmen:
„Möge Allah dich beschirmen!“

Sieh! den Weg dahin zieht stolz die Karawane –
Bei der Pauke Dröhnen wehen über ihr der Pferdeschweif und Fahne –
Doch den Männern, die verlassen
Stambuls volksbelebte, bunte, traute Gassen –
Stambuls Märkte, seine Säulenhallen
Wo von den Platanen leise, trockne Blätter fallen –
Seine Kaffeehäuser, wo das Leben wird zum holden Traum,
Seine blauen Meeresweiten mit der stolzen Wellen weißem Schaum,
Seiner Hügel hohe windumrauschte Kronen,
Wo der Vorzeit große Geister wohnen –
Ihnen pochet unter Panzerhemd und Gaitan und Talar
Wild das Herz vor Kummer. Denn verloren ist für sie, was einstens war.

In die unbekannte Fremde geht ihr Weg
Und Gefahren ohne Zahl bedräuen ihren Steg –
Wo auf weißem Ruß nur Hysir sie bewahrt,
Wenn zum Heiligen sie rufen auf der Fahrt –
Und „Geleit Euch Gott!“ erschallt von aller Munde
In der dunkeln, bittern Abschiedsstunde –

Bis zum Brunnen geben das Geleit
Väter, Brüder, Söhne, Mütter, Schwestern, Mann und Maid –
Jetzt noch einmal sie vom Sattel sinken,
Von der Quelle sie noch einmal trinken –
Über alte, junge Wangen rinnt der Tränen Flut –
Und noch einmal fühlen pochen sie am ihren eines teuern Herzens Glut –
Dann – den Weg dahin sieht stolz die Karawane –
Bei der Pauke Dröhnen wehen über ihr der Pferdeschweif und Fahne –
In der Sonnen
Liegt der Bronnen . . .

Veröffentlicht / Quelle: 
Friedrich Schrader; Eine Flüchtlingsreise durch die Ukraine; Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck); 1919 - S. 12, 13

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