Alltag der Anja K., Pflegerin

Bild von HansFinke
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Kaum erwacht und schnell ins Bad,
Ein Brot geschmiert, ein Kaffee blubbert,
Die Kleine aus dem Schlaf geholt.
Die Küchenuhr tickt eilig fort.
Schon hat Dezemberwind sie hart empfangen.
Die Kleine, fest an sich gedrückt, zum Bus.
Gedrängt zur Krippe, ein Griff ist noch frei. -
Ein schneller Kuss, das Kind, halb schlafend,
In fremde Obhut einer jungen Frau, wie sie.
Und wieder Bus, die blickleeren Gesichter
Schweigen sich an, sind ja von gleicher Art. -
Im Heim flugs in die grüne Kluft,
Ein schneller Austausch mit dem Nachtdienst noch
Die Übergabe ist Routine. Noch ein kurzer Gruß.
Dann ist sie wieder im Geschirr.
Den Gang entlang, den jemand hurtig wischt. -
Herr M. freut sich schon wie ein Kind
Wenn sie ins Zimmer tritt, denn er vergisst so leicht
Was gestern war, sieht nur die junge Frau,
Die gleich sein Schwergewicht vorsichtig heben wird,
Und wäscht und kleidet, Zuwendung ihm schenkt,
Wie es die kurze Zeit erlaubt, die vorgeschrieben ist.
So eilt sie, pflegend, fütternd, tröstend durch den halben Tag. -
Ein kurzer Plausch bleibt um die Mittagsstunde,
Bei Kaffee und Einheitskost, dann Essenslieferung
Und wieder hurtig aufgedeckt. Nur nicht verweilen.
Sie denkt kurz an Frau B., wo war die heute nur?
Die schien die letzten Tage schon nicht mehr so ganz…
Und weiter geht’s, sie füllt Tabellen aus,
Schreibt Zahlen in die Listen, die nie stimmen,
Weil Menschen keine nackten Zahlen sind
Und gute Pflege sich dem Takt verweigert.
Sie hält knochige Hände, redet zu, verabreicht Pillen
Und schämt sich still für das verordnete Husch-Husch,
Das ihr und diesen Alten jede Würde nimmt. -
Bald schließt die Krippe, doch sie weiß,
Der junge BuFDi wird wohl auf sie warten*,
Der kennt sie schon aus ihrem Plattenbau. -
Frau B. so hört sie, war ganz leise eingeschlafen,
Die Nachtschicht hatte sie schon weggebracht.
Ein freies Bett ist schließlich nicht rentabel.
Sie gebar drei Kinder, eine Tochter und zwei Söhne,
Die zeitlich, nun, wie dem auch immer sei,
Sich ihres Kommens außerstande sahen.
Da steht sie ganz allein im Gang und weint
Drei Minuten lang, mehr war nicht möglich. -
Drei Minuten Trauer für ein hartes Leben.
Am Ende so zu sterben, denkt sie und die Frage,
War das nun alles? lässt sie nicht mehr los. -
Es ist längst dunkel als sie spät zur Krippe kommt,
Ihr Würmchen seine Arme um sie schlingt.
Sie küsst es voller mütterlicher Liebe.
Und kommt zurück in ihre eigne, kleine Welt
Denn nicht zu Ende ist der Tag für sie;
Er reicht noch weiter in die Nacht hinein.

© Hans Finke 10/12

* Bundesfreiwilligendienst-Tuender

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Interne Verweise

Kommentare

02. Jan 2015

Darum den Alltag „GRAU“ man nennt –
Das Grauen – scheint oft immanent…
LG Axel

03. Jan 2015

WOW!
Obwohl nie Pflegerin, habe ich streckenweise eigenen früheren Alltag wiedererkannt. Besonders, dass ich meine Tochter auch im kalten Winter schon um 5 Uhr aus dem warmen Bett zerren musste, damit wir die täglich 86 km zur Arbeit und zum Kindergarten schaffen konnten. Das hat mir jedes Mal das Herz zerschnitten ...
Meine Güte, Hans, woher weißt Du solche Dinge ...

03. Jan 2015

Danke euch fürs Lesen; ist ja nicht gerade DAS Thema zum Neubeginn eines Jahres. - In der eigenen Familie gab es eine "Anja K." und unsere Tochter absolvierte diverse Praktika in solchen Einrichtungen... So oder ähnlich geht Zukunft heute. - LG Hans

04. Jan 2015

Lieber Hans,
dies sind sehr gewichtige Zeilen, sie gehen direkt hinein in die Tiefe der Seele, herzlichen Dank dafür und ganz liebe Grüße!

04. Jan 2015

Alleinerziehenden, berufstätigen Menschen und all denen in pflegenden Berufen, gilt meine Hochachtung - und wenn das, wie hier so eindrucksvoll beschrieben, auch noch zusammen trifft, umso mehr.
Mich hat dieser Text beim Lesen richtig "mitgenommen". Hans, das hast du sehr interessant und einfühlend beschrieben!
Viele Grüße
Corinna

04. Jan 2015

...ich wünschte, solche Texte müssten nie geschrieben werden. - Danke, Corinna. - Hans