Die Verabschiedung - Page 2

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forsch.
„Eben nicht!“
„Hmm, warte mal, ich hab da eine Idee.“
Georg Weber wandte sich wieder dem Computer zu und öffnete zwei, drei Fenster des relevanten Softwareprogramms. Er machte ein paar Eingaben, runzelte die Stirn, tippte erneut etwas ein und drückte die Return-Taste. Ein stolzes Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Komm mal rum“, forderte er Peter Schaller auf. Dieser tat wie ihm geheißen.
„Wenn du die Klausuren anlegst, gibst du einfach hier in der zweiten Betreffzeile nochmal die drei Fächernamen ein, dann tauchen die auch auf dem Vertretungsplan auf.“
Peter Schaller schaute sich den Vorgang, den Georg Weber gerade abgeschlossen hatte, aus der Nähe an und war zufrieden mit dem Ergebnis.
„Danke dir, Georg. Wäre ich nicht drauf gekommen!“
„Kein Ding!“

Zurück auf dem Flur, musste er sich bereits einen Weg durch eine kleine Menschenmenge bahnen. Die Schüler waren zwar angehalten, in der großen Pause den Schulhof aufzusuchen, aber eine beträchtliche Menge nutzte diese Zeit, um die Lehrer mit nur scheinbar oder wirklich wichtigen Dingen zu belästigen: Themen für Facharbeiten, Freistellungen vom Unterricht, nachgereichte Hausaufgaben, korrigierte Klassenarbeiten und Klausuren, Notenfeilschereien, Mobbingvorwürfe und vieles mehr. Peter Schaller jedoch hatte Glück. Auf dem Weg in sein Büro sprach ihn nur ein Kollege an: Harald Mertig.

„Du kommst doch nachher, Peter?“
„Harald, mein Freund und Kupferstecher“, sagte Peter Schaller in jovialem Tonfall, „um nichts in der Welt ließe ich mir deine Verabschiedung entgehen.“

Harald Mertig, den viele Schüler aufgrund seines fülligen Gesichtes und des markanten Schnäuzers nur Mr. Pringles nannten, hatte es geschafft. Sein Soll war erfüllt, er hatte vierzig Jahre in die Pensionskasse eingezahlt, keine Altersteilzeit beantragt und war weder physisch noch psychisch das Wrack, als das viele Kollegen vor ihm schon in den Ruhestand gesunken waren. Harald und Peter gaben sich kurz die Hand und gingen dann ihrer Wege.

Als Peter sein Büro aufgeschlossen hatte, machte er die Tür hinter sich zu. Er hatte keine reguläre Sprechstunde und so konnte er sich guten Gewissens verschanzen. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und holte aus der untersten Schublade seinen in eine Thermoskanne abgefüllten Chevailler Acacia hervor, einen französischen Whiskey aus dem Pays d’Othe. Er schüttete sich einen Fingerbreit Whiskey in einen Pappbecher und stürzte den Alkohol schnell hinunter. Vor mehr als zwanzig Jahren, als Peter Schaller in dieser Schule angefangen hatte, waren die älteren, fast ausschließlich männlichen Herbert Wehner und Franz-Josef Strauß-Kollegen weniger verstohlen mit diesem Laster umgegangen. Auf Konferenzen knallten die Sektkorken, auf den Tischen stand das Bier, und der gute Whiskey war zwar im Fach verschlossen, wurde aber in der Öffentlichkeit des Lehrerzimmers getrunken. Doch nun waren diese alten Kollegen nur noch Gespenster, Tote, über die man sich unglaublich anmutende Geschichten erzählte und deren tradierte Altherrenwitze wie aus einer anderen Zeit gefallen schienen. Peter Schaller weinte dieser Zeit keine Träne nach, er wunderte sich lediglich, dass sich diese Zustände innerhalb von relativ kurzer Zeit in ihr Gegenteil verkehrt hatten: jetzt stellten Frauen das Gros des Kollegiums, waren Alkohol und Zigaretten geächtet wie nie und musste böser Humor sich der political correctness unterordnen.

Es klopfte an der Tür. Einen Moment lang überlegte Schaller, sich tot zu stellen und die Geduld und Beharrlichkeit des Klopfenden auszusitzen. Doch nach dem dritten Klopfer gab er auf. Er wischte sich mit dem Ärmel über den Mund, als könne er damit den Geruch von Alkohol in seinem Rachen vertreiben, erhob sich zügig und öffnete die Tür. Es war Georg Weber.
„Entschuldige, Peter“, sagte er, „aber wir haben Not am Mann. Frau Göpels Tochter hat sich in der KiTa am Arm verletzt und sie muss jetzt ins Krankenhaus fahren. Könntest du die ISK Klasse für sie übernehmen?“
Peter Schaller stöhnte.
„Welche denn?“, fragte er leicht entnervt.
„ISK 2“.
„Sind das die Lieben oder die Bösen?“
Georg Weber tat sein Möglichstes nicht allzu pikiert zu schauen. Aber auch er wusste, dass es eine ISK Klasse mit handzahmen Flüchtlingskindern und eine mit ziemlich renitenten Analphabeten gab.
„Na, egal“, sagte Schaller, „ich werd’s schon rausfinden. Wo sind die denn?“
„Raum 112“, erwiderte Weber.
„Gut, ich geh sofort hoch, ich muss gerade noch bei einem Schüler eine Kursänderung eintragen.“
„Ich danke dir, Peter“.
„Kein Ding“, sagte Schaller ironisch. Er ließ die Bürotür offen, ging zum Computer und schloss lediglich die Fenster seines Browsers.

Als er die Internationale Sprachklasse betrat, war Frau Göpel schon weg. Die dreizehn Schülerinnen und Schüler, die aufgeregt durcheinander liefen, schauten ihn verdutzt an. Schaller ging auf den Jungen zu, den er noch vom letzten Vertretungsunterricht in der Klasse als ‚Anführer’ in Erinnerung hatte, und sagte laut und deutlich zu ihm, er möge sich bitte hinsetzen. Diese persönliche Ansprache funktionierte in seiner Erfahrung besser als eine Ansprache an die ganze Gruppe. Der Junge fügte sich der Anweisung, und sein Gehorsam infizierte den Rest der Klasse. Langsam, aber ohne Umwege, kehrten sie zu ihren Plätzen zurück und setzten sich hin. Da saßen sie nun: vier Kopftuchmädchen, zwei dunkelhaarige Rumäninnen, und sieben Jungs mit schwarzen Haaren und vier Herkunftsländern: Syrien, Irak, Kosovo und Sri Lanka. Das hatte Schaller beim letzten Mal erfragen können und das waren auch die einzigen Fragen, die die Schüler in ganzen Sätzen beantworten konnten. Nicht jedoch, weil sie deren Grammatik durchdrungen, sondern weil sie es auswendig gelernt hatten.

Schaller zwang sich zur Ruhe. Er stellte sich breitbeinig in den Mittelgang, verschränkte die Arme vor der Brust und rührte sich nicht. Sein Blick war frei geradeaus, wie er es beim Wehrdienst vorgemacht bekommen hatte. Als totale Ruhe im Raum herrschte, begrüßte er die Kinder.
„Guten Morgen, Herr Schaller“, grüßten sie zurück.
Peter Schaller nahm das auf dem Pult liegende Deutschbuch und blätterte darin, bis er einen passenden Text gefunden hatte.
„Wir schreiben ein Diktat“, sagte er mit einer Selbstverständlichkeit, die einen glauben machen konnte, er habe diese Stunde von langer Hand geplant.
„Ich werde zuerst den gesamten Text vorlesen, dann Satz für Satz in angemessenem Tempo. Wenn ihr nicht mitkommt, macht ihr einfach beim nächsten Satz weiter. Verstanden?“
Zwei Schüler nickten.
Peter Schaller begann den Text zu lesen. Es war ein recht simpler Text, Basisvokabular, um den Ablauf eines Morgens zu beschreiben: aufstehen, Zähne putzen, duschen,

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