Schwesternliebe

Bild von Susanna Ka
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„Ein Bild malt man von oben nach unten und …“
Theresa doziert. Wie immer, wenn sie malt und ich ihr dabei zusehen darf. Sie verteilt blaue Ölfarbe auf einer Leinwand, die fast die gesamte vordere Front ihres Ateliers einnimmt. Kobaltblau, hauchdünn und gleichmäßig - mit einem Pinsel, der in meinen Augen eher einem Besen gleicht.
Theresa, meine ‚große‘ Schwester. ‘Groß‘ deshalb, weil sie tatsächlich größer ist, als ich. Höher und breiter. Und weil ich schon als Kind zu ihr aufgeschaut - nein, sie vergöttert habe. Theresa, die Große, der Mittelpunkt meiner kleinen Welt.
Ich sitze im hinteren Teil ihres Ateliers in dem alten Ohrensessel, der früher einmal genau so blau gewesen sein mochte, wie der Farbauftrag auf der Leinwand. Eingekuschelt in eine leichte Daunendecke und in die blaugemusterten Kissen, die Theresa hineingelegt hat, damit ich es weich und gemütlich habe. Damit sich mein Körper, der durch die Chemotherapie berührungsempfindlich geworden ist, keine Blessuren holt.
„… von hinten nach vorn.“
„Ja, ich weiß, ich schreibe ja auch so.“
Mit einem Ruck dreht sich Theresa zu mir um und der Pinsel zieht eine halbkreisförmige Spur Kobaltblau durch das Atelier.
„Von hinten nach vorn? Das Ende zuerst? Aber woher kennst du das Ende denn, wenn du noch gar keine Story hast?“
„Die Geschichten entwickeln sich von allein. Manchmal so rasant, dass ich ihnen ein Ende setzen m u s s. Also wähle ich eine Situation, oder ein Gefühl, und lasse die Handlung bis zu diesem Punkt laufen. Oder ich reppel die Geschichte wirklich rückwärts auf, Satz für Satz. So ähnlich wie du deine Bilder malst, Schicht für Schicht. Von hinten nach vorn.“
Theresa geht neben dem Sessel in die Hocke und wuselt durch mein rappelkurzes Haar.
„Armes Baby, diese verdammte Chemo hat dir ganz schön zugesetzt.“
„Ja, das hat sie, aber ich habe schon immer so geschrieben. Manchmal kenne ich die Geschichte noch gar nicht. Dann nehme ich ein großes Blatt Papier - A2 ungefähr - und verstreue Worte und Sätze darauf, die mir gerade einfallen. Meistens verbinden sie sich von selbst. Wenn nicht, zerschneide ich das Blatt und ordne mein Geschreibsel neu. Das ist echt kreativ. So entwickeln sich ganz neue Ideen, die Personen machen etwas Anderes, Schauplätze ändern sich… so entstehen die tollsten Stories.“
Meine Schwester guckt mich verständnislos an.
„Das ist doch wie beim Malen. Stell‘ dir vor, du hast noch keinen Plan, aber eine große Leinwand und Farben. Dann malst du wahrscheinlich erst einmal einen Hintergrund, blau wie…“
Theresa folgt meinem Blick.
„Denk‘ nicht einmal daran, das ist eine Auftragsarbeit!“
„Ok, ok, dann musst du eben neu anfangen. Also du hast jetzt eine blaue Fläche. Darauf verteilst du Farben und Formen, wie sie dir gerade in den Sinn kommen.“
„Blauer Himmel – Wolken – weiß - rosa angehaucht vom Sonnenuntergang.“
Theresa gerät sofort ins Träumen. Nach den vielen abstrakten Bildern und Wandveredelungen, mit denen sie ihren Lebensunterhalt verdient, hat sie offenbar Lust, wieder einmal etwas Gegenständliches zu malen.
„Das Blau, hell, von innen heraus leuchtend, Kobalt… eine perlmuttfarbene Mondsichel…“
„Und unter der Mondsichel ein weißes Boot.“
Schon guckt sie wieder komisch.
„Was soll das Boot?“
„Das ist für den Tiger.“
Theresa schüttelt den Kopf.
„Was immer dir dieser Doc in die Adern gepumpt hat…“
„…hat damit nichts zu tun. Das Schiff des Tigers ist untergegangen und er, ein Zebra, ein Orang-Utan und eine Hyäne treiben nun in einem Rettungsboot über den Ozean. Erst frisst die Hyäne das Zebra, dann den Orang-Utan …*
„Stopp, stopp, ich weiß Bescheid! D e n Tiger meinst du. Wie heißt er noch gleich? Richard Parker. Dann brauchen wir aber auch den indischen Jungen“.
„Pi. Pi tanzt auf einer Wolke und versucht, mit seinem Cacher den Kater aus der Mondsichel zu holen.“
„Kater im Mond…???“
„Ja, ein roter Kater, Gismo…, wo ist er eigentlich?“
„Hinten im Garten, er mag doch den Farbgeruch nicht.“
Sich ihren geliebten Gismo im Mond vorzustellen, bringt Theresa aus dem Gleichgewicht.
„Jede Nacht sitzt eine Katze im Mond und wacht über die Katzen auf der Erde. Sie wechseln sich ab. Und in der Nacht, in der du das Bild malst, ist eben Gismo dran.“
„…?“
„Das hat mir Liese erzählt. Du musst deinen Katzen mehr zuhören, Schwesterherz, dann wüsstest du so etwas auch.“
Theresa schüttelt den Kopf.
„Ach mein Kleines…“
Sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn und springt auf.
„Ich hol dir Schokoladeneis.“
Zufrieden lehne ich mich in die Kissen zurück. Es klappt also immer noch. Auch nach sechzig Jahren. Wenn es mir nicht gut geht oder ich sie mit meinen absurden Geschichten durcheinandergebracht habe, holt meine Schwester Schokoladeneis.
Theresa macht ihr Schokoladeneis selbst. Nach einem Rezept, das sie von unserer Großmutter übernommen, es mir aber nie verraten hat. Es enthält neben Kakao, Milch und Sahne, verschiedene Gewürze. Manchmal meine ich auch Rum oder Baileys herauszuschmecken. Auf jeden Fall ist es köstlich und verbindet mich mit meiner Kindheit, mit Oma und Theresa, mit Fürsorge und Trost.
Da sitzen wir nun, die kleine und die große Schwester. Ich, mit Decke und Kissen, hineingeschmiegt in den Ohrensessel und Theresa auf dem Fußboden daneben. Falten durchziehen unsere Gesichter und unsere grauen Haare sind genau so wenig zu bändigen wie wir selbst. Wir balancieren eiskalte Glasschalen auf den Knien und lutschen konzentriert das Eis von den Löffeln. Minuten, in denen wir uns ganz dem Geschmack und der Erinnerung hingeben.
„Ich mach’s,“
sagt Theresa plötzlich.
„Was machst du?“
„Ich mal‘ es. Das Bild. Mit dem Tiger auf dem Boot, mit Gismo im Mond, und mit Pi. Für Dich.

Bezieht sich auf den Roman „Schiffbruch mit Tiger“ (Life of Pi) von Yann Martel. Gibt es auch als DVD, ein Film mit wunderschönen Bildern.

Interne Verweise

Kommentare

14. Sep 2018

Eine wunderbare Geschichte, liebe Susanna ... und dazu noch sehr gut geschrieben. Zwei Schwestern, die sich lieben und dazu noch hervorragend ergänzen. Das fertige Gemälde hätte ich zu gern gesehen. Die künstlerische Begabung liegt wohl bei euch in der Familie. Danke für den wirklich hervorragenden Text und das gute Bild am Schluss.

Liebe Grüße,
Annelie

14. Sep 2018

Sehr berührende Geschichte, liebe Susanna, die ich sehr gerne gelesen habe :)

Lieben Gruß,
Ella

14. Sep 2018

Eine liebenswerte Geschichte zweier kreativer Schwestern, die eine mal, die andere schreibt, beides kann heilen - Seele, Geist und Körper ...

HG von Marie an Susanna (und ihre "große" Schwester)

14. Sep 2018

Kein Schiffbruch. den Dein Text erlitt:
Da kommt der Leser gerne mit!

LG Axel

14. Sep 2018

… es war ein farbenprächtiger, ergreifender und nachdenklicher Film … genauso, wie deine Geschichte, liebe Susanna.
PS. Ich sah den Film damals im Kino, was optisch mehr daher macht, als eine DVD.

Liebe Grüße
Soléa

15. Sep 2018

Man ist mitten drin dabei, nicht nur mit dem Hirn...
Fange du weiter von hinten an, aber das Schokoeis schick mir!
LG Uwe