Amok

Bild von stoef
Bibliothek

Unlängst saßen wir zusammen beim Wein, viele Leute, eine schöne Runde. Da gab ich mit lockerer Zunge diese fast dreißig Jahre alte Geschichte wieder zum Besten. Unter den Anwesenden auch mein alter Freund und ehemaliger Studienkollege Ringo – und ich kam nicht umhin, zu bemerken, dass ich diese Story eigentlich nur erzählen kann, weil er als damaliger Zeuge anwesend ist, denn sonst würde mir das niemand abnehmen.

Es war aber auch wirklich fast nicht zu glauben, was wir Anfang der neunziger in einer heißen Sommernacht erlebten. Trotzdem ist diese Begebenheit so wahr, wie nur irgendetwas wahr sein kann.

Wir waren jung, wir waren Studenten, kannten jeden, uns gehörte die Stadt. Der Mittelpunkt der Szene war damals eine illustre Kneipe, ein ehemaliges Kino, mit einem riesengroßen Raum und einer Bühne. Wir gingen dort fast jeden Abend hin, hier war das Leben, hier wollte man dazugehören. Die Musik war angesagt, die Frauen waren anhänglich und wir, wir waren die Könige der Szene. Oder bildeten uns das zumindest ein.

Der Wirt des „Allegro“ war Gert, der erste Schwule, den ich überhaupt kennenlernte, und den wir sehr mochten. Er ließ uns vieles durchgehen und schrieb auch das eine oder andere Getränk an. Denn wirklich leisten konnten wir uns die Boheme eigentlich nicht.

Eines Abends, ein wirklich heißer Sommerabend und die Luft im „Allegro“ dermaßen stickig, dass man es kaum aushielt, stellten wir eigenmächtig Tische auf die Straße vor dem Lokal und brachten unsere Getränke mit nach draußen. Das war nicht erlaubt, aber Gert duldete es stirnrunzelnd.
Dort saßen wir nun, unterhielten uns und tranken – eine illustre Runde aus Studenten, Künstlern, Beamten und so weiter.

Wir alle blickten in die Runde und folgten den Gesprächen; was um uns herum geschah, nahmen wir kaum auf. Ich nahm nur am Rande wahr, dass ein offener Wagen, ein Jeep, mit vier jungen Leuten besetzt vor dem Lokal hielt. Die Leute stiegen aus, gingen hinein, und vergaßen, das Radio abzuschalten. Laute Musik schepperte blechern über die menschenleere Straße und hallte an den Häuserwänden wider.

Etwas später drehte ich mich nochmals mit einem Seitenblick zu dem Auto – und glaubte meinen Augen nicht zu trauen.

Um das Fahrzeug schlich, langsam aber zielsicher, ein Mann mittleren Alters, mit wirrem Blick und bewaffnet mit einer Harpune und einem Samurai-Schwert.

Die Situation sprach zu mir. Ich wusste sofort, diese Sache ist ernst, hier passiert gerade etwas ganz furchtbares, was ich um jeden Preis verhindern muss.

Viele Gedanken schossen mir durch den Kopf. Was sollte ich nur tun? Dort hingehen und den Helden spielen wäre auf jeden Fall falsch.

Ich musste Aufsehen vermeiden, durfte den Mann auf keinen Fall noch mehr aufregen. Allein war ich dieser Situation nicht gewachsen.

Neben mir saß Steven, Gerichtsvollzieher von Beruf und ein rechter Vierschroth. Der erschien mir als Verbündeter geeignet.

„Steven,“ sage ich, „sieh bitte ganz unauffällig nach links. Aber bleib ruhig. Wir kriegen das hin.“
Steven tat, was ich ihm sagte, und ihm schlief das Gesicht ein. „Pass auf, meine Idee ist, wir beide schlendern dort mal ganz ruhig hin und laden den an unseren Tisch ein.“

Gesagt, getan: Wir gingen mit gespielter Gleichgültigkeit zu dem Auto, einer von uns sprach den wirr Blickenden, Wütenden an. Etwa so: „Hallo, wir haben dich von dort drüben gesehen! Es ist so heiß, und da wollten wir dich auf ein kühles Bier einladen. Komm mit zu uns!“ Vorsichtig legte Steven seine Hand auf die Schulter des Mannes und wir geleiten ihn sanft zu unserem Tisch.
Er ließ seine Waffen sinken, und ich atmete auf, denn hier würde wohl keine Katastrophe mehr passieren, wenn wir uns klug verhielten.

„Stell doch die Dinger an die Wand, und ich hol dir ein Bier, OK?“ Der Mann gehorchte, war zusehends verunsichert, so, als kenne er sich selbst nicht. Und ich war mit drei, vier Sprüngen an der Bar bei Gert, riss ihm das Bier, was er gerade zapfte, aus der Hand, rief ihm noch zu: „Ich brauche das dringend, die Sache ist ernst, wir erklären dir später alles!“, und war auch schon wieder mit dem kühlen Bier draußen am Tisch, reichte es dem wirren Krieger. Wir stießen an, tranken ein paar große Schlucke und nun wurde unser Kämpfer vollends ruhig.

Inzwischen waren natürlich auch die anderen am Tisch aufmerksam geworden, hatten verwundert auf unseren Gast und sein Waffenarsenal geblickt. Er quittierte das mit störrischen Blicken. Ich wandte mich an die Runde: „Redet weiter, unterhaltet Euch, der Mann hier ist der Gast von Steven und mir. Alles in Ordnung.“

Die Runde verstand. Sie führten ihre Gespräche weiter, was Steven und mir die Gelegenheit gab, mit unserem Gast ein unverfängliches Gespräch anzufangen. Dabei bemerkte ich seinen polnischen Akzent, was mir einen weiteren Trumpf in die Hand spielte. Denn dieser Sprache war ich mächtig, und so sprach ich ihn gleich in seiner Muttersprache an:

„Wenn man was kühles zu trinken hat, ist es besser bei dieser Hitze, oder?“

„Ja, das stimmt.“

„Die Hitze macht einen ganz verrückt, nicht? Dich hat sie vorhin auch ganz verrückt gemacht, wir haben dich gesehen. Eigentlich bist du ein ganz friedlicher Mensch, ein ruhiger Mensch, stimmts?“

„Ja. Ich bin Arzt. Ich bin Chefarzt in der Frauenklinik hier im Klinikum. Jetzt hatte ich einige Tage Dienst als Notarzt in der Nacht, und am Tage ging es weiter auf Station. Ich konnte nicht mehr. Und heute habe ich frei und wollte endlich schlafen. Und dann diese Hitze, und dann kamen diese Spinner mit der Musik. Und dann bin ich irgendwie durchgedreht.“

„Hör zu,“ sagte ich, „ zum Glück ist nichts passiert. Die Sache ist erledigt.“

Inzwischen waren die jungen Leute aus der Bar gekommen und mit ihrem offenen Wagen abgedüst. Sie werden wohl nie erfahren, wie nah sie an diesem Abend dem sicheren Tod waren.

Unser Gast schüttelte noch einmal verwundert den Kopf, trank sein Bier dann in einem Zug aus, verabschiedete sich knapp und ging mit seinen Utensilien nach Hause.

Nachtrag:

Ringo, mein Zeuge in dieser Sache, und ich, wir arbeiteten damals als Studenten im Kino. In dieser Zeit kannten wir alle Filme. Besonders beeindruckt hatte uns u.a. „Falling Down“ mit Michael Douglas, in dem nachvollziehbar beschrieben wird, wie ein braver Angestellter zum Amokläufer wird. Nie hätten wir geglaubt, dass wir bereits kurze Zeit später live bei einem solchen Vorfall dabei sein würden.